Bauhaus, Gott und Niederrhein. Die Wiederentdeckung der Künstlerin Lotte Marx-Colsman

Im Leben der Künstlerin Lotte Marx-Colsman gab es gleich drei Kompassnadeln: die Schule des Bauhauses, ihr tiefes religiöses Empfinden und die Freude an ihrer Wahlheimat Niederrhein. Mit letzterem gemein hatte sie eine “stille Größe”, die auch dazu beitrug, dass ihr Werk zu Lebzeiten überregional kaum bekannt wurde und über die Jahre in Vergessenheit geriet. Das Bauhaus-Jahr 2019 ist ein guter Anlass, an diese ungewöhnliche Textilkünstlerin zu erinnern.

Deshalb freut es mich ganz besonders, dass die Redaktion des Gender-Blogs (www.gender-blog.de) im Rahmen des Netzwerks Frauen- und Geschlechterforschung NRW, eine biographische Reihe zu Bauhauskünstlerinnen aufgelegt und mich eingeladen hat, hier Leben und Werk von Lotte Marx-Colsman vorzustellen – Link zum Beitrag.

Eine intensive Beschäftigung mit Frauen in der Kunst findet erstaunlicher Weise in unseren Breiten erst seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts statt. (siehe Whitney Chatwick, Frauen, Kunst und Gesellschaft, engl. 1990, dt. München 2013)

Selbst das als so modern geltende Bauhaus hatte noch große Probleme mit weiblichen Kolleginnen (Ulrike Müller, Bauhaus-Frauen. Meisterinnen in Kunst, Handwerk und Geschlecht, München 2009). Als Lotte Colsman endlich in der Familie eine künstlerische Laufbahn hatte durchsetzen können, saß das Bauhaus längst in Dessau, wurde kommunistischer Umtriebe bezichtigt und war für die Tochter aus gutem Unternehmerhause unerreichbar.

Doch die Moderne war damals nicht nur im entlegenen Osten des Deutschen Reiches zu finden – Aufbruch, Innovation und Avantgarde lagen buchstäblich vor der Haustür des Familiensitzes in Hagen.

Köln und Düsseldorf wetteifern in dieser Zeit um den Ruf als Metropolen der Moderne am Rhein. Allein die von den großen Ausstellungen GESOLEI (Düsseldorf 1926) und PRESSA (Köln 1928) ausgehenden Impulse waren zumindest im Westen wesentlicher, als alles, was das Bauhaus aus Weimar oder später Dessau kündete und zeigte. Darüber hinaus verfügten beide Rheinmetropolen über lebhafte, zumal avantgardistische Künstlerszenen, die auch weibliche Vorbilder boten. Lotte Colsman bereitete sich auf die Aufnahme an der Kölner Werkschule vor, ließ sich aber dann doch von der Familie zur Ausbildung als Krankenschwester überreden.

Ausgerechnet in der Zeit des NS entschied sich die junge Frau, den Geist des Bauhauses und der Moderne aufzunehmen ( z. B. mit Kursen bei Johannes Itten in Krefeld) und zu ergänzen. Bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs fand sie immer wieder Aufnahme in weiterführenden Kursen an der Kunstgewerbeschule in Stuttgart aber auch an der Städelschule in Frankfurt.

Eine Existenz als Meisterin der Textilkunst hätte folgen können, wenn sie bereit gewesen wäre, der NSDAP oder einer ihrer Organisationen beizutreten. Das kam für Lotte Colsman nicht in Frage. Stattdessen entschied sie sich zur Heirat mit einem früheren Lehrer, dem Landschaftsmaler Otto Marx – trotz des Altersunterschiedes, unterschiedlicher künstlerischer Ambitionen und vor allem auch der Parteizugehörigkeit dieses Mannes.

Die Ehe schützte die kinderlose Lotte Marx-Colsman nicht vor dem Einsatz als Krankenschwester an der sogenannten Heimatfront. Möglicherweise hat sie aber auch helfen wollen. Ihre Ablehnung des Kriegsgeschehens fand Ausdruck in einem stillen Protest: Während der Kriegsjahre fertigte sie eine auf den ersten Blick sehr harmlos aussehende Tischdecke an, in deren Bordüre sie aber die Schlachtorte mit ihren Opfern verzeichnete. Der letzte “Eintrag” erfolgte nach dem Abwurf der Atombombe auf Hiroshima.

Nach dem Verlust der Düsseldorfer Atelierwohnung durch Bombenschaden, ließen sich Otto Marx und Lotte Marx-Colsman endgültig am Niederrhein nieder.

Während Otto Marx hier seine Erfüllung fand, litt Lotte unter dem Erlebten. In dieser Phase gab ihr ihre religiöse Erziehung halt. Bestätigung fand sie in den Jahren 1950 bis 1958 im Meisenheimer Freundeskreis des im NS verfolgten Publizisten und Pfarrers Hellmut von Schweinitz. Hier fand sie Anregungen für ihre religiösen Dichtungen und Darstellungen, die sie auch veröffentlichte.

Sie kulminierten in ihren beiden wichtigsten öffentlichen Aufträgen, Ehrenmale für die Gefallenen in Vynen 1957 und ein Jahr später in Appeldorn. Hier verknüpfte sie die Trauer um die Toten mit der Hoffnung auf einen “Anbruch neuer Zeit”.

Erst nach dem Tod ihres zweiten Ehemannes 1969 erlaubte sich Lotte Marx-Colsman ein freies Künstlerinnendasein. Sie blieb am Niederrhein und entwickelte von hier aus ihre ausdrucksstarke, kostbare Stick- und Tapesseriekunst.

Aus unendlich kleinteiligen mehrfach gespiegelten Collagen entstanden Vorlagen für große Teppich-Bildwerke, die zum Teil in Kirchen und Kapellen der Umgebung Platz fanden.

Hans van der Grinten und Josef van Bebber hatten seit den 1950er Jahren in Kranenburg ein auf eine umfangreiche Sammlung religiöser Volkskunst basierendes Museum aufgebaut. (Heilige Orte – Heilige Dinge. Devotionalien im Museum Katharinenhof Kranenburg. Kranenburg 2009) Es war und ist zugleich ein Sammlungsort für moderne Kunst des Niederrheins. Lotte Marx-Colsman bestimmte, dass ihr Nachlass als Stiftung in diesem Museum ihrer Wahlheimat Niederrhein erhalten bliebe.

Literatur von und über Lotte Marx-Colsman:

Lotte Marx-Colsman, Gedichte, Esens o. J.

Elisabeth Wynhoff, Lotte Marx-Colsman – Eine Textilkünstleriin in der Bauhausnachfolge. Mit einem Verzeichnis der Werke aus der Lotte-Marx-Colsman-Stiftung, Museum Katharinenhof Kranenburg, Kranenburg 2002

Lotte Marx-Colsman-Stiftung, Kranenburg 1990

Theresa Georgen, Lotte Marx-Colsman. Künstlerische Arbeiten zwischen Bauhaus und Gegenwart, Bern 1985

#zeitraeumeruhr – Erinnerungsorte an Ruhr und Emscher

Heute auf Zollverein fand der erste Tag des großen Ruhrkonvents zu den Erinnerungsorten im “Ruhrgebiet” statt. Noch immer schwebt dieses merkwürdige Wortgebilde “Ruhrgebiet” über der Region an der Ruhr. Insbesondere wieder seitdem die große Hoffnung auf die “Metropole Ruhr” skeptischer gesehen wird. Während eine parallel ins Leben gerufene Website zur eigeninitiativlichen Erinnerungsverortung in der Region aufruft, haben sich die beteiligten Wissenschaftler offenbar entschlossen, anstelle von Erinnerungsorten lieber von “Zeit-Räumen” zu sprechen. Im Englischen würde man das (ohne Rücksicht auf den rätselhaften Bindestrich) mit “eras” übersetzen, im Deutschen als Synonym “Epochen” einsetzen. Eine unschwer zu verortende Epoche an der Ruhr ist sicher die Zeit der Schwerindustrie im Ruhrgebiet – was aber fangen wir mit dem Plural an? Wie verhält sich ein “Zeitraum Folkwang” zu einem “Zeitraum Arbeiterliteratur”, wie grenzt sich ein “Zeitraum Emscher” von einem “Zeitraum Halden” ab oder gehört das nicht doch zusammen in eine Epoche?
Mythen, Konstrukte, Klischees und viel Nostalgie gehören seit langem zum historiographischen Kitt dieser von der Schwerindustrie gebeutelten und offenbar noch immer ziemlich umnebelten Region zwischen Ruhr und Lippe. Mit den “Zeit-Räumen” wird es ganz verwirrend. Hoffentlich folgt morgen am zweiten Tag des Ruhrkonvents oder zumindest in Zukunft mehr Klarheit. Doch nachdem heute mit Stolz verkündet wurde, dass wir uns in 2020 auf eine große RuhrMuseums-Ausstellung mit dem Titel “100 Jahre Ruhrgebiet” freuen dürfen, gebe ich die Hoffnung auf mehr Klartext mit Klarsicht auf. Eine Rückschau auf die Gründung des Siedlungsverbands Ruhrkohlenbezirk im Mai 1920 ist ein interessantes Thema – aber muss es gleich wieder die große Keule sein?

“Glückauf Zukunft” -2018 als Erinnerungsjahr für die Steinkohle

Das Bochumer Institut für Deutschlandforschung/RUB stellte Anfang Februar im Rahmen eines zweitägigen überregionalen und interdisziplinären Fachgesprächs mit dem Titel „Jenseits der Jahrestage?“ die naheliegende Frage, warum sich die historische Erinnerungskultur überwiegend an der Wiederkehr von „runden“ oder festgelegten speziellen Tagen und Jahren entzündet. Ist dies eine überkommene Form der Erinnerungskultur, die vor allem in nicht- demokratischen Gesellschaften gepflegt wird, oder brauchen wir auch in einer offenen zunehmend pluralistischen Welt diese festen kalendarisch und epochal verankerten Erinnerungsrituale?
Die Frage führte zu einer lebhaften Diskussion mit besonderer Reflexion auf das vergangene Lutherjahr 2017 und auf die Bemühungen um eine gemeinsame europäische Erinnerungskultur. Dass Erinnerungskultur nicht nur einen Zeit- sondern auch einen Raumbezug braucht, kam insbesondere in der Diskussion um das Jahr 2018, als Jahr des (endgültigen) Abschieds vom Deutschen Steinkohlenbergbau zur Sprache. Grundlage für die Debatte war das umfangreiche Jahresprogramm „Glückauf Zukunft“http://www.glueckauf-zukunft.de/kalender, in dem fast ausschließlich im Ruhrgebiet an die Bedeutung der Steinkohle und der Kumpel erinnert wird.
Das Impulsreferat dazu trug den Titel „ Das Extra-Jahr 2018. 365 Tage Erinnerung mit Zukunft“ (Dr. Ulrike Laufer, Kommentar Prof. Dr. Petzina). Continue reading