Things that make the world go round – Warenströme der modernen Welt

DSCI0248
Vortrag im Rahmen der Jahrestagung der Deutschen Ingenieurinnen 2014
Die Eisenbahnen, die Verbesserung des Schiffsverkehrs, die Motorisierung, das Flugzeug und neue Kommunikationsmittel führten zu effizienteren weltumspannenden Handels- und Wirtschaftsverbindungen. Gemeinhin werden diese auch als internationale oder globale Arbeitsteilung beschrieben, das Schlagwort für diese weltweiten Arbeitsprozesse lautet Globalisierung.
Ohne Schiffe sind weltumspannende Warenströme nicht möglich. Dass hochwertige Industriegüter zunehmend als Luftfracht transportiert werden, tat lange Zeit der Steigerung des Schiffsverkehrs keinen Abbruch: Seit der Jungfernfahrt des ersten Containerschiffes im April 1956 (die Ideal X lief mit etwa 60 Containern an der amerikanischen Ostküste) verzeichnet dieses Transportmittel jährliche Wachstumsraten von bis zu 10 Prozent. 8 Millionen Container wurden 2005 im Hamburger Hafen umgeschlagen. Der größte Containertransporter der Welt war 2014 noch die Emma Maersk, die bis zu 11.000 Container (TEUs) gleichzeitig transportieren kann. Sie umrundet im Schnitt siebenmal im Jahr die Erde, angetrieben von einem der größten Dieselmotoren der Welt. Die Emma Maerks gehört der dänischen Reederei A. P. Moller-Maersk Group.
Benutzte man ursprünglich Container mit 20 Fuß Länge (=6,1 Meter), den sogenannten TEUs, so kommen nun immer mehr FEUs, also Container mit 40 Fuß Länge zum Einsatz.
Schüttgutfrachter, Tanker und Containerschiffe sind die Distributoren und Warenlager unseres Wohlstands. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat sich ein Trend, der bis dato bereits in der Textilindustrie zu beobachten gewesen war, in extremem Maße realisiert: Immer mehr Unternehmen produzieren weltweit in Standort- oder Warenketten. Rohstoffe, Einzelteile, Halbfertigware und fertige Produkte werden rund um den Globus und vorwiegend von West nach Ost oder Ost nach West bewegt. Dies gilt für Spielzeug – hier wird meist auf die Beispiele Lego und Barbie verwiesen – ebenso wie für den breiten Automotive-Markt und vor allem auch die Elektronikindustrie. Die Teile eines Dell-Computers kamen 2005 aus Irland, China, Brasilien, USA und Malaysia, und anderen Ländern: Insgesamt waren 400 Produktionsstandorte aus Nordamerika, Europa und vorwiegend Asien beteiligt. Heute werden etwa 98 Prozent des interkontinentalen und 62 Prozent des innereuropäischen Handels über Seewege abgewickelt, wobei das Rohöl der wichtigste zwischen den Industriestaaten transportierte Rohstoff ist.
Im 16. und 17. Jahrhundert bestanden noch verschiedene Seefahrt-Imperien nebeneinander, eine eindeutige Vorherrschaft Europas ist nicht feststellbar: China, das Osmanische Reich, das Mogulische Reich und Persien konkurrierten und kooperierten mit den Europäern auf den Weltmeeren. Im vorindustriellen Welthandel gehörten Salz, Gewürze, Weihrauch, Seide, Indigo, Gold, Silber, Kupfer, Eisen, Tee, Kaffee, Kakao, Porzellan, Pelze, Tabak, Alkohol, Zucker, Indigo, Wolle, Baumwolle und Textilien zu den besonders begehrten Waren, wobei dem Silber sehr früh die Bedeutung eines globalen Zahlungsmittels zukam. Bedeutende alte Handelsrouten zu Land waren etwa die Bernsteinstraße von Nord nach Süd durch Europa, die Weihrauchstraße (zwischen Ägypten und Indien), die Salzstraßen, aber auch die Karawanen des Orients und die Ochsenkarrentrecks im 19. Jahrhundert quer durch die Subsahara Afrikas.
Seltene und schöne Dinge wie Porzellan, kunstvolle Textilien, Perlmutt etc. erfreuten im 18. Jahrhundert längst nicht mehr nur den Adel sondern auch wohlhabende Bürger. Der Austausch solcher Luxusgüter funktionierte damals allerdings nicht nur in Ost-West sondern auch in Nord-Süd-Richtung: Vor allem aus Nigeria kamen in der Zeit der Vor- und Frühindustrialisierung hochwertige Textilien und Lederwaren nach Europa, während andererseits schlesisches Leinen und Metallwaren aus Solingen ihren Weg in diese Region fanden. Wichtigstes Handelsgut aus Ostafrika war nach wie vor Elfenbein, bestimmt für Europa, die USA und Asien. Finanziert wurden die Handelskarawanen in Ostafrika von indischen Bankiers.

Die großen Pioniere der Seefahrt in Europa waren die Portugiesen und Spanier. Sie teilten den damals bekannten Globus unter sich auf: Die Spanier segelten fortan nach Westen, um Eroberungen und Handel zu treiben, die Portugiesen nach Osten (Vertrag von Tordesillas 1494, die Grenze verlief etwa 1770 km westlich der Kapverdischen Inseln). Es folgten seit dem 17. Jahrhundert die Niederländer. Sie nahmen den Portugiesen die Vormacht in Ostindien ab und gründeten eine ostindische Handelskompagnie. Dank des Welthandels wurde das 17. Jahrhundert zum „Goldenen Zeitalter“ in den Niederlanden.
Englische Schiffe manövrierten zunächst am Rande der spanischen und portugiesischen, bzw. niederländischen Hoheitsgewässer, bevor sie sich auf Macht- und Konkurrenzkämpfe mit den alten Seefahrernationen einließen. Der englische Seehandel zog seine Vorteile aus der Konzentration auf lukrative Handelsbasen in Indien (Bombay und Madras) sowie in China. Trotz des wieder erstarkten Machtzentrums Oman, das seine Seehandelsbasis von Muscat auf der arabischen Halbinsel nach Sansibar – ein wichtiger Stützpunkt für den Export von afrikanischem Getreide und von Sklaven in den Mittleren Osten – verlegte, ließen sich die Engländer nicht mehr aus dem Indischen Ozean verdrängen. An den Rändern von Atlantik, Indik und Pazifik entstanden Welthäfen wie Kanton in Südchina (heute Guangzhou oder Kwangton). Die Portugiesen waren die ersten aus asiatischer Sicht westlichen Seefahrer in dem großen Hafenbecken von Kanton, gefolgt von den Spaniern, den Arabern, Muslimen aus Indien, den Engländern und den Niederländern, aber auch Dänen, Schweden, Preußen und schließlich kamen noch im 18. Jahrhundert auch die Amerikaner.

Adam Smith, der große Theoretiker des englischen Liberalismus, pries Nationen, die sich am Welthandel beteiligten, als vernünftige Familienväter, die sich nicht damit aufhalten, Dinge, die anderswo billiger zu haben sind, selbst herzustellen: „Was aber vernünftig im Verhalten einer einzelnen Familie ist, kann für ein mächtiges Königreich kaum töricht sein. Kann uns also ein anderes Land eine Ware liefern, die wir selbst nicht billiger herzustellen im Stande sind, dann ist es für uns einfach vorteilhafter, sie mit einem Teil unserer Erzeugnisse zu kaufen, die wir wiederum günstiger als das Ausland herstellen können…“ (Über den Wohlstand der Nationen, 1776) Damit lieferte Adam Smith eine simple aber grundlegende Erklärung für die Generierung von Mehrwert aus dem fruchtbaren Zusammenspiel zwischen Industrie und Handel, das sich in den nächsten drei Jahrhunderten perfektionieren sollte.
Man kann annehmen, dass um 1800 rund 70% des Welthandels von den Europäern, darunter insbesondere den Briten bestritten wurde. In der Literatur ist von einer „quasi-monopolistischen Beherrschung der Weltmeere“ durch Großbritannien die Rede, das sich einen rasanten Vorsprung in der Technisierung und Industrialisierung verschafft hatte. Im British Empire profitierten Handel und Industrie gleichermaßen vom Warenaustausch mit den Kolonien: Neben den Kolonialwaren kamen Rohstoffe ins Land, die für neue Arbeitsplätze sorgten. Zugleich stieg die Nachfrage in den Kolonien aber auch darüber hinaus nach britischen Manufaktur- und Industrieprodukten.

Drei Welthandelsströme bewegten vor der industriellen Revolution die (westliche) Welt: Sklaven aus Afrika, Gold und Silber aus Amerika, landwirtschaftliche Produkte vor allem Zucker, Tee, Kaffee, Kakao, Tabak, Baumwolle und Gewürze aus Amerika und Asien. Der Handel über den Atlantik war seit dem 17. Jahrhundert geprägt vom Sklavenhandel. An den westafrikanischen Küsten unterhielten Dänen, Engländer, Franzosen, Niederländer, Portugiesen, Schweden und Preußen Handelsstützpunkte. Der Sklavenhandel diente zur Finanzierung europäischer Luxusgüter und kurbelte die Produktion von Konsumgütern, Waffen und Alkohol in Europa an, die von den westafrikanischen Stammesfürsten begehrt waren.
Am Vorabend der europäischen Industrialisierung steigerte sich der Sklavenhandel erheblich. Die wachsende Nachfrage beruhte auf dem großen Arbeitskräftebedarf auf den amerikanischen Plantagen. Dies galt insbesondere für die Zuckerproduktion in Brasilien. Die Empfindlichkeit des Zuckerrohrs erlaubte keine langen Transporte nach Europa zur Weiterverarbeitung, sondern erforderte die sofortige Verarbeitung zu Melasse oder auch Kristallzucker in sogenannten „Zuckermühlen“, die mit Hilfe von Sklaven betrieben wurden.
Die Briten hatten im 17. Jahrhundert indischen Baumwollsamen nach Nordamerika gebracht. Auch hier entwickelten sich große Plantagen, für die Sklaven aus Afrika dringend gebraucht wurden.
Der durch den Sklavenhandel beförderte Konsum und das daraus generierte Kapital beförderten die Industrialisierung Europas. Die Entwicklung neuer Maschinen im Zuge der fortschreitenden Technisierung der Produktionsabläufe trug dann allerdings zur Abschaffung des Sklavenhandels bei. Um 1780 erreichte der Sklavenhandel seinen Höhepunkt, und ebbe danach zuerst im Nordatlantischen Raum ab. Seit 1802 unterließen die Dänen, seit 1807 die Engländer den Sklavenhandel. 1808 wurde der Sklavenimport in die USA beendet, aber erst 1865 für illegal erklärt. Stattdessen verlegte sich der Sklavenhandel um 1810 in den Süden nach Brasilien und Kuba. Erst ab 1840 ist hier ein abrupter Rückgang zu verzeichnen. Brasilien beendete den Sklavenhandel 1888.
„Am I not a man or a brother?“ Schmuckemblem etwa in der Größe eines Knopfes. Den Protesten vorwiegend kirchlicher und aufgeklärter Kreise gegen den Sklavenhandel schloss sich auch einer der größten Porzellanwarenhersteller in Europa an: Josiah Wedgwood (1730-1795). Er war einer der ersten, der industriell hergestellte Ware in großen Massen, aber auch sehr guter Qualität in alle Welt exportierte. Wedgwood gehörte zu den führenden Aktivisten unter den Gegner der Sklaverei. Mit dem hier zu sehenden kleinen Schmuckemblem, das am Revers, am Hut oder im Haar getragen wurde, gaben sich Abolitionisten zu erkennen und appellierten an die Humanität. Der kniende Sklave wurde zum Symbol der Abolitionismus-Bewegung.

Unter dem Einfluss von Technik und Industrie veränderten sich die Warenströme grundlegend. Der Bedarf nach bestimmten Handelsgütern schnellte in die Höhe: Baumwolle, Getreide, Kaffee, Kakao, Zucker, Holz – z. B. Teak aus Java für den Schiffsbau oder Holzschliff aus Kanada für Zeitungen und Bücher -, Erz, Kohle, Stahl – insbesondere für den Eisenbahnbau weltweit. Neue Handelswaren kamen hinzu, darunter Guano, Salpeter, Häute (Argentinien), Petroleum, Palmöl, Erdnüsse, Kokosnüsse und Kautschuk.
Aus der Beobachtung fremder Völker sowie exotischer Tiere und Pflanzen ergaben sich immer wieder neue Rohstoffe für Luxus- wie auch Massenwaren. So dezimierten Amerikaner, Japaner, Norweger und Franzosen weltweit und rücksichtslos die Walbestände im 19. Jahrhundert, denn Wale lieferten wertvolle Rohstoffe und Nahrungsmittel. Das Öl aus den mächtigen Köpfen der Pottwale (Spermaceti oder Walrat) diente als Grundstoff für auserlesene Kerzen. Die Wespentaillenmode des 19. Jahrhunderts wäre ohne das aus den Barten der Grönlandwale gewonnene Fischbein undenkbar gewesen. Amerikanische Walfänger jagten selbst vor den Küsten Japans und erzwangen auch aus diesem Grund die Öffnung des bis dahin sich streng von der Welt abschottenden Inselstaates 1853.
Dem Bedarf nach mehr Sicherheit auf hoher See – man denke an das Unglück der Titanic – kam die sogenannte Südsee-Daune entgegen. So bezeichnete man die Hohlfaser des Kapokbaumes, die hauptsächlich in den asiatischen Tropen wächst. Sie wurde nicht nur für Polsterungen gebraucht, sondern vor allem auch für Rettungsringe und Schwimmgürtel, da ein natürlicher Fettfilm die Aufnahme von Wasser verhindert und die Tragfähigkeit von Kapokprodukten bis zu fünfzigfach über dem Eigengewicht liegt. Straußenfedern dienten nicht nur als modische Accessoires sondern erleichterten auch das Abstauben in den im 19. Jahrhundert mit Nippes und Kunstgegenständen überfrachteten Salons. (Heute werden in Südafrika Emus in großen Farmen gezüchtet, da mit diesen Federn eine optimale Entstaubung vor dem Lackiervorgang erreicht werden kann und die Auto-Industrie weltweit danach verlangt.)
Das 19. Jahrhundert war geprägt von einer „europäischen Weltwirtschaft“, der Atlantik fungierte quasi als ein europäisches Binnenmeer. Doch daneben wurde der Indische Ozean und der Pazifik für die Europäer immer wichtiger. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts waren auch Australien, Neuseeland und Ozeanien für den Welthandel erschlossen. Warenströme auf der südlichen Halbkugel insbesondere zwischen Afrika und Asien wurden unterbrochen und über Europa umgeleitet. Es entwickelte sich ein Austausch von Primärgütern auf der südlichen Weltkugel gegen Industriegüter des Nordens. Das British Empire war nach wie vor führend. Sein Handel griff tief in asiatische Warenströme ein. So war bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts China global der größte Tee-Exporteur gewesen – dann förderten die Briten den Teeanbau in ihre indo-asiatischen Kolonien: Assam und Ceylon-Tee verdrängten zwischen 1860 und 1890 den chinesischen Tee vom Markt. Die nordamerikanische Seefahrt holte jedoch mächtig auf.

Die entscheidende Voraussetzung für die Dominanz Europas und der USA, nachfolgend auch Japans, im Welthandel war die Verbesserung der Navigation durch neue nautische Geräte sowie der Schiffsbautechnik.
Unter den neuen Schiffstypen sind vor allem die ab etwa 1840 vom Stapel laufenden amerikanischen Klipper zu zählen. Das waren schlanke und besonders wendige Handelsschiffe, zunächst noch aus Holz und dann in Kompositbauweise mit Innenstruktur aus Eisen und Außenbeschlägen aus Kupferblech. Sie wurden für schnelle und wertvolle Transporte gebraucht – zunächst für Eis, das aus Neuengland zu den Plantagen im Süden und in der Karibik verfrachtet wurde. Die Briten bauten die Schiffe mit dem nach innen gekrümmten scharfen Bug schnell nach und setzten sie für die Teefahrten ein. Der Seeweg zwischen China und England wurde zu einer traditionellen maritimen Rennstrecke: Die legendäre Cutty Sark (heute ein Nachbau im Museum in Greenwich) erinnert an dieses „Tee-Rennen“. Sie transportierte Tee aus China, aber auch Wolle aus Australien, auf einem Handelsweg, der auch als Clipper-Route bekannt ist. Nach den Klippern wurden die oft aus Stahl gebauten Windjammer zu den Favoriten des Welthandels (meist als Viermaster), ihnen folgten die Dampfer, die sich allerdings nur entlang der Kohlestationen fortbewegen konnten.
Der 1902 in Bremerhaven vom Stapel gelaufene Fünfmaster Preußen, ein Zeugnis deutscher Stahl- und Schiffsbaukunst und allgemein als das schnellste Segelschiff der Welt anerkannt. Die Preußen sank 1910 nach Kollision mit einem regelwidrig verkehrenden englischen Dampfschiff vor Dover. Die Briefmarke wurde 1977 von der Deutschen Bundespost herausgegeben.

Die unaufhaltsame Industrialisierung Europas steigerte sowohl die Rohstoffnachfrage wie auch die Suche nach neuen Absatzmärkten. Ein Europa im heutigen Sinne gab es im 19. Jahrhundert natürlich nicht. Der Kontinent bestand aus vielen miteinander rivalisierenden mehr oder weniger zur Großmacht neigenden und geeigneten Staaten. In den europäischen Reichen herrschte die Vorstellung, dass nur ein bedeutender Überseebesitz durchaus als legitim angesehene Großmachtambitionen ermögliche. In der Folge wurde am Ende des 19. Jahrhunderts jeder Teil der Welt, der noch nicht zum britischen Empire oder einem anderen traditionellen Seefahrer-Imperium gehörte und schwach genug für eine Besetzung und Unterwerfung war, zu einer europäischen Kolonie. Andererseits zerbrach bis 1825 das spanische Weltreich endgültig: In der Folge erklärten die Staaten Lateinamerikas ihre Unabhängikeit.
Auf dem afrikanischen Kontinent setzte sich die Kolonialisierung unbeirrt fort. Treibende Kräfte für die Gründung deutscher Kolonien in Afrika waren Hamburger und Bremer Handelshäuser. Die Aufteilung Afrikas unter den europäischen „Großmächten“ wurde auf der Berliner Afrikakonferenz unter Bismarck 1884 beschlossen. Die Kolonialisierung stellte in vielen Fällen nicht nur eine politische, kulturelle und medizinische Katastrophe dar (Rinderpest in Ostafrika mit Todesfolge für Mensch und Tier) sondern führte aufgrund des auf den Export orientierten Wirtschaftssystems auch zu massiven Nahrungsmittelengpässen auf dem afrikanischen Kontinent. Exportorientierte Kolonialwirtschaft hieß Bau von Bergwerken und Anlage von Monokulturen, z. B. für Kaffee, Kakao oder auch Sisal. Afrika lieferte Gold, Diamanten, Bauxit und Kupfer in die Welt. In der Agrarwirtschaft konnten sich afrikanische Kleinbauern gegen die großen Plantagen nicht durchsetzen, obwohl ihre Erträge durchaus vergleichbar waren.
Im gleichen Zeitraum trat die Erdnuss, ursprünglich ein brasilianisches Produkt, ihren Siegeszug um die Welt an. Auch China und andere asiatische Länder begannen, Erdnüsse anzubauen, um dem europäischen Hunger nach Fett als Nahrungsmittel und Energielieferant aber auch den Bedarf an Schmiermitteln und Rohstoffen für chemische Produkte nachzukommen. Aus dem gleichen Grund wurden weitere tropische Früchte kultiviert, insbesondere die Kokosnuss, die in getrockneter Form als Kopra in den Handel kam. Darauf gründete der Hamburgische Unternehmer und Reeder Johan César Godeffroy sein Imperium auf Samoa, aus dem schließlich die deutsche Südseekolonie entstehen sollte.
Begehrt war nicht nur die ölhaltige getrocknete Fruchtmasse sondern auch die Kokosfaser für Seile, Matten und Matratzen. Das Palmöl, bis dahin überwiegend ein afrikanisches Produkt, wurden nun auch in asiatischen Ländern gewonnen. (Noch immer trägt der hohe Bedarf an Palmöl wesentlich zur Zerstörung tropischer Wälder bei. Dies geht nicht auf das Konto der Schokolade- und Pommes Frites-Konsumenten sondern ist dem hohen Verbrauch an Agrartreibstoffen geschuldet.)

In der Textilindustrie war und ist die gegenseitige Abhängigkeit von Handel und Industrie besonders evident. Zudem machte sich hier das Aufholen Nordamerikas im Welthandel gegenüber dem noch im 19. Jahrhundert lange dominierenden Europa besonders bemerkbar. Europäische Exporte zerstörten weltweit die einheimische Textilproduktion, wobei sich die europäischen Unternehmen auch auf exotische Kleidungsgewohnheiten einstellten. Es war ein langer Weg bis zum dem internationalen Unisex-Kleidungsstück, das heute als das Symbol moderner Lebensart und globalen Handelns überhaupt gilt: das T-Shirt. Erst seit den 1950er Jahren trat es mit den kulthaften Kinofilmen „Endstation Sehnsucht“ und „…denn sie wissen nicht, was sie tun“ (James Deans makellos weißes T-Shirt war damals mit Sicherheit noch komplett „made in USA“) seinen Siegeszug in die Kleiderschränke der ganzen Welt an.

Nach dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg 1783 hatte sich der britische Handel stärker nach Afrika und nach Osten bis nach Ozeanien orientiert. Gerade die asiatischen und afrikanischen Märkte boten Baumwolle und Exportmöglichkeiten für industriell produzierte Kleidung, die nun dank der Dampfmaschine, der Spinning Jenny (1764) und verbesserter Webstühle (seit 1786) nicht mehr im Verlagswesen sondern in großen Fabriken hergestellt wurde. 1793 kam die „Cotton Gin“, eine Entkörnungsmaschine für die Rohbaumwolle auf den Markt. Diese Arbeit hatten bisher Sklaven erledigt, die nun zusätzlich auf den Plantagen eingesetzt werden konnten. Der Baumwollboom und damit der Aufstieg Großbritanniens zur führenden Industrienation konnten beginnen.
Nach der endgültigen Abschaffung der Sklaverei 1865 am Ende des Amerikanischen Bürgerkriegs arbeiteten weiterhin viele Afroamerikaner auf den Baumwollplantagen des Südens. Fotografie um 1900, Courtesy of Georgia Archives

King Cotton hielt nun die „Dinge in Bewegung“, zog im Laufe der Jahrhunderte über den Globus und ließ sich immer wieder von neuem dort nieder, wo die günstigsten Produktionsbedingungen herrschten. Er gilt mit Fug und Recht als Wegbereiter des Kapitalismus, brachte schlimmste Arbeitsbedingungen, Sklaverei und Ausbeutung in die produzierenden Regionen, sorgte aber andererseits dafür, dass diese Regionen überhaupt Anschluss an globale Wirtschaftsstrukturen fanden. Europa produzierte aus amerikanischer oder indischer Baumwolle Textilien, die wiederum als Handelsware nach Afrika, Indien und Amerika verschifft wurde. Zwei Drittel aller weltweit betriebenen Spindeln drehten sich um 1860 in Manchester und Umgebung. Unter industrialisierten Produktionsbedingungen war die Baumwolle zu einem billigen Massenprodukt geworden. Die fortschreitende und ständig verbesserte Maschinisierung in der Baumwollverarbeitung im Laufe des 19. Jahrhunderts sorgte dafür, dass innerhalb von knapp hundert Jahren seit der Erfindung des „Cotton Gin“, der Preis für ein Baumwolltuch um fast 100 Prozent sank – die Nachfrage wuchs.
Die Geschichte der industriellen Verarbeitung von Baumwolle führt vor Augen, dass Globalisierung keine Erscheinung des 3. Jahrtausends sondern mindestens der letzten 250 Jahre ist.
Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts verdreifachte sich der Welthandel mit Fertigprodukten. Der „neue Weltmarkt in Ostasien“ (vor allem in Japan und China) beflügelte die Phantasie der europäischen Produzenten – darunter seit Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend auch der deutschen. Chinas Baumwollanbau war marginal: Liverpool und Manchester hatten China bisher mit Baumwollwaren und Tuchen versorgt. Bergbau und Montanindustrie waren noch wenig entwickelt. Anders als in Japan sollte dies noch einige Zeit so bleiben. (1861 schenkte der preußische Staat Japan eine komplette Krupp´sche Walzanlage, nachdem im Rahmen der sog. Eulenburg-Expedition mit Müh und Not der erste Handelsvertrag zwischen Preußen und Japan zustande gekommen war. Eine Verhandlung mit allen 32 deutschen Zollvereinsstaaten – ein Deutsches Reich gab es ja damals noch nicht – lehnten die Japaner wegen der Unübersichtlichkeit der Verhältnisse ab.) Nicht nur auf den ostasiatischen Märkten bestand ein großer Bedarf an in Europa produzierten Konsumartikeln aller Art. England und Frankreich erkannten, dass eine Verständigung zum Freihandel und friedlichen Miteinander zu mehr wirtschaftlichem Erfolg und Wohlstand ihrer Bürger führen müsse und schlossen 1860 einen entsprechenden Vertrag, von dem insbesondere die französischen Winzer und Cognac-Hersteller profitierten.
Auch die von den Reedereien in Bremerhaven und Hamburg entsandten Schiffe waren auf ihren Fahrten zu den Rohstofflagern weltweit nicht leer: Modewaren aller Art, Kosmetik, feinmechanische und optische Gegenstände, Fabrikware aus Porzellan, Steinzeug und Glas (von Fürth aus wurde die Welt beispielsweise mit Spiegeln versorgt), Haushaltswaren aus Email (belgischen, oberpfälzischen und thüringischen Ursprungs) Druckwaren, Baumaterialien aller Art, Möbel und Teppiche lieferten das damals noch als „Billiglohnländer“ geltenden deutschen Bundesstaaten und ihre europäischen Nachbarn zu Kunden in aller Welt. Trotz des Ausbaus von Hamburg (Bau des Freihafens von 1881-1888) und von Bremerhaven (Ausbau des Kaiserhafens bis zum Ende des 19. Jahrhunderts) blieb Liverpool für viele deutsche Unternehmen das Tor zur Welt, bzw. zum britischen Empire, in dessen Kolonien viele wohlhabende Kunden auf europäische Waren warteten. In Liverpool saßen beauftragte Agenten oder eigenständige Kontore, die für den Umschlag der Waren sorgten. Nicht immer war man dabei zimperlich mit den Herkunftsbezeichnungen: Deutsche Ware galt in der Welt noch nicht als Qualitätsware. Als aber 1887 England die Einführung von Herkunftsbezeichnungen forderte und durchsetzte, dass deutsche Waren mit „Made in Germany“ gekennzeichnet werden mussten, zeigte sich, dass von den Kunden deutsche Produkte als hochwertig und solide und zudem preiswert sehr geschätzt wurden– ob es sich nun um Lacklederschuhe von der Bergstraße der Firma Freudenberg, Nähmaschinen von Adam Opel in Rüsselsheim und Georg Pfaff in Kaiserslautern oder auch Klaviere aus Berlin oder Sachsen handelte.
Der Suezkanal (schiffbar seit 1870) erleichterte und beschleunigte den Schiffsverkehr – in erster Linie zum Vorteil des britischen, dann aber auch des deutschen Handels.

Die teuren Dampfer wurden zunächst für hochwertige Ware eingesetzt. Die Teutonia lief seit Dezember 1856 für die Hamburg-Brasilianische Dampfschifffahrtsgesellschaft, die Linie brachte allerdings keine Rendite. Die Hapag kaufte das Schiff für den Verkehr mit den USA.

Zwischen 1850 und 1913 entwickelte sich die deutsche Seefahrernation: Die Zahl der Seeleute auf den deutschen Schiffen stieg auf das Doppelte, der Umfang der Flotte nach Bruttoregistertonnen um das 6,6fache. Die Schiffsladungen verzehnfachten sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts exportierte das Deutsche Reich allerdings immer noch mehr Landwirtschafts- als Industriegüter. Clumsy Old Germany, wie man im British Empire gerne noch sagte, war Fleischlieferant für das wohlhabendere Inselvolk. Aus Schleswig-Holstein und Niedersachsen wurden ganze Herden zu neu entstehenden oder expandierenden Häfen wie eben Tönning in Schleswig-Holstein oder Nordenham in Niedersachsen getrieben und hier lebend – so blieb die Ware frisch – verschifft. 1877 verbot England aufgrund der im Deutschen Reich herrschenden Rinderpest die Einfuhr und der Norddeutsche Lloyd stellte auf Schafe um. Zurück fuhren die Schiffe mit Baumwolle, Reis, Tee und Weizen. In den 1880er Jahren entwickelte sich Nordenham aufgrund seiner unverbauten und abgelegenen Situation zum Haupteinfuhrhafen von Rohöl (Naphta). Die Erweiterung des Hafens in Bremerhaven 1897 machte der Prosperität in Nordenham ein Ende.
(Noch immer werden lebende Schlachttiere rund um den Globus verschifft. Vor allem die rituellen Schlachtgesetze in Israel und den islamischen Staaten erfordern eine immense Transportlogistik. Australien ist einer der Hauptexporteure. Auf den Schiffen australischer Reedereien werden bis zu 75.000 Schafe oder 20.000 Rinder gleichzeitig verladen und in den Nahen Osten, bzw. nach Indonesien gebracht. Tierschützer prangern die elenden Bedingungen der teils wochenlangen Überfahrten für die Tiere an, für die australischen Reeder und Züchter ist dies ein gutes Geschäft, es ist eine wichtige Haupteinnahmequelle Australiens.)
Die deutsche Landwirtschaft hatte von dem massenhaften Import von Düngemitteln profitiert. Seit 1840 wurde Guano von den Inseln vor der peruanischen Küste nach Europa eingeführt – in die Zollvereins-Staaten , bzw. ins Deutsche Reich hauptsächlich über Hamburg. Wenig später begann auch die Einfuhr von Salpeter. Der Salpeterboom in der Atacama Wüste in Nord-Chile wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von zwei Hamburger Kaufleuten initiiert. Einer der beiden, Henry B. Sloman, Abkömmling der Sloman-Reederei in Hamburg, wurde mit seinen Salpeterlieferungen vor und im Ersten Weltkrieg sehr reich und ließ wenige Jahre später das Chilehaus in Hamburg errichten. Er war ein großer Wohltäter der Hansestadt. Die Turbinen für die Elektrizitätsversorgung im Salpeter-Bergwerk lieferte übrigens 1911 Siemens-Schuckert.
Die Düngemittelimporte trugen dazu bei, dass Hungerkatastrophen im Laufe des 19. Jahrhunderts immer seltener wurden. Die Ernährungslage der Bevölkerung in Europa, zumindest in West- und Mitteleuropa verbesserte sich. Der wachsende Wohlstand machte sich insbesondere im Deutschen Reich bemerkbar, wo die Industrie seit den 1880er Jahren boomte. Das Gleiche galt für die deutsche Handelsflotte, deren Leistungsfähigkeit zwischen 1895 und 1905 um 134% zunahm – zum Vergleich: Die Leistungsfähigkeit der Welthandelsflotte steigerte sich in dieser Zeit um 70 %, die von England um 47%.
Allein die dem deutschen Handel zwischen 1898 und 1911 zur Verfügung stehende Dampfertonnage verdreifachte sich. Dampfturbinen und Mehrschraubenantrieb sowie die „Ölmaschine“, der Dieselmotor, waren nun gefragt. Die Handelsnation England bewies wieder einmal kaufmännische Intuition und übernahm die Führung beim Bau von Tankdampfern für den Rohöltransport.

Obwohl seit 1890 die Stimmung in Europa gegen den Freihandel umschlug und sich zunehmend protektionistische Maßnahmen durchsetzten, schlug im Deutschen Reich die Begeisterung für den Welthandel noch hohe Wellen, da der wachsende Wohlstand in allen Bevölkerungsschichten damit in Verbindung gebracht wurde:
„Bis in die kleinste deutsche Arbeiterhütte erstreckt sich der Weltverkehr“, schrieb
der Nationalökonom Professor Dr. Paul Arndt in seiner 1908 in erster Auflage, 1913 in zweiter Auflage erschienenen Monographie Deutschlands Stellung in der Weltwirtschaft. Der Autor führte weiter dazu aus:
„Die Weltwirtschaft ist eins der größten Wunderwerke menschlichen Scharfsinns, menschlicher Geschicklichkeit und menschlicher Kühnheit, ein überaus sinnvolles, fein gegliedertes und in seiner riesenhaften Größe kaum übersehbares Gebilde. In der Weltwirtschaft vereinen sich Millionen und Millionen Menschen zu gemeinsamer Arbeit, Millionen verschiedener Abstammung, verschiedenen Glaubens, verschiedener Kultur. Es ist ein gewaltiges Schaffen, teils füreinander, teils gegeneinander, anscheinend planlos, in Wirklichkeit sehr wohl ausgedacht, auf den Erfahrungen von Jahrhunderten begründet….
Unzählbar und äußerst kunstvoll verschlungen sind die wirtschaftlichen Fäden, welche die ganze Erde überziehen. Der ungeschulte Geist, der nur einen kleinen Teil des Netzwerkes wahrnehmen kann, der nicht sieht, wo es angefertigt und wie es in Bewegung gesetzt wird, fühlt sich ihm gegenüber oft fassungslos und bedrückt. Geheimnisvoll und launenhaft erscheint ihm die Macht, die das riesenhafte volks – und weltwirtschaftliche Getriebe regelt, die oft unerwartet segen- und unheilbringend in das wirtschaftliche Leben des einzelnen Menschen und der Völker eingreift.
Man hat dieser Macht einen eigenen Namen gegeben: Konjunktur. Die Konjunktur ist der Inbegriff aller volks- und weltwirtschaftlicher Beziehungen. Das Wort ist ein zusammenfassender Ausdruck für das unendlich vielgestaltige, freundliche oder feindliche, harmonische oder disharmonische Aufeinanderwirken der zahllosen wirtschaftlichen Einzelkräfte.“
Das Deutsche Reich war zum zweitstärksten Roheisenproduzenten der Welt (hinter den USA) aufgestiegen und hatte England überrundet. Unter den Stahlerzeugnissen waren insbesondere deutsche Eisenbahnschienen, Halbzeuge, Träger, Draht und gewalzte Röhren begehrt. Sie kamen aus dem Ruhrgebiet, von der Saar, aus Oberschlesien und aus den kleineren aber sehr leistungsfähigen Hütten der Oberpfalz. „Im fernen Osten geht Großes vor sich. China, das Riesenreich mit seinen mehr als 400 Millionen Einwohnern ist erwacht“, schrieb die damals führende Technikerzeitschrift, Dinglers Polytechnisches Journal. China hatte dem Deutschen Reich eine Niederlassung in Tsingtau gewährt. Die Hafenstadt wurde vom Deutschen Reich mit großem Aufwand zu einem Beweis der Überlegenheit deutscher Ingenieur- und Baukunst ausgebaut. Tsingtau war nicht nur für den Handel sondern auch für die kaiserliche Marine attraktiv, da im Hinterland große Kohlevorräte für die Dampfschiffe lagerten.
Neben deutschem Stahl und Eisen (unter absoluter Führung der Friedrich Krupp Werke) waren insbesondere die Produkte der deutschen Maschinenbauindustrie, auch der Landmaschinen, äußerst begehrt. Der deutsche Maschinenbau erlebte in der Zeit von 1890 bis 1913 seine beste Wachstumsperiode überhaupt. Bis dato hatte der deutsche Anteil am Gesamtexport bei 2,25 gelegen, nun stieg er auf 6,7%. Die Elektroindustrie war mit den Großunternehmen Siemens-Schuckert-Werke, AEG und Bosch noch erfolgreicher. Die deutsche Elektroindustrie setzte ein Viertel ihrer Produktion ins Ausland ab – Siemens sogar 36%. Die Großen der deutschen Chemieindustrie, die sog. „Kleine IG“: BASF, Bayer und Agfa setzten 80% des Kundenumsatzes im Farbstoffgeschäft im Ausland ab. Neben Farben gehörten Pharma-Produkte zu den in der Welt am meisten nachgefragten deutschen chemischen Produkten.
Der Aufstieg der Automobilindustrie zunächst in den USA (1913 Beginn der Fließbandproduktion bei Ford), nach dem Ersten Weltkrieg auch in Europa führte zu einer wachsenden Nachfrage nach Kautschuk als Rohstoff für die Gummiproduktion. 1839 hatte Goodyear oder hatten die Goodyears das Verfahren zur Gummiproduktion aus Kautschuk gefunden und 1851 auf der Weltausstellung in London publik gemacht. Zunächst besaß Brasilien als das Herkunftsland der Gummibäume ein natürliches Monopol. Doch 1876 waren der Samen nach Großbritannien geschmuggelt worden. In Kew Gardens in London wuchsen die ersten Setzlinge. In den britischen Kolonien Malaysia und Ceylon entstanden seit 1889 langsam die ersten Gummiplantagen. Vor dem Ersten Weltkrieg blieb der Plantagenkautschuk unbedeutend. Noch 1905 kamen 99,7% der Weltproduktion aus Südamerika oder Afrika. Das Deutsche Reich war inzwischen selbst Kolonialmacht und verfügte über Kautschukplantagen in Deutsch-Ostafrika, deren Ertrag aber nicht einmal ein Zehntel seines Bedarfs deckte. Die Kautschukgewinnung in Afrika wird zumeist mit Belgisch-Kongo in Verbindung gebracht (Karl Fischer, Blutgummi. Roman eines Rohstoffes“, 1938). 1885 bis 1908 war die heute Demokratische Republik Kongo persönliches Eigentum des belgischen Königs Leopold II. Ihm kam der Gummiboom, vor allem nach der Erfindung des Luftreifen durch John Boyd Dunlop 1888, gerade recht. Die Verhältnisse besserten sich, doch die Ausbeutung der Arbeiter blieb bestehen, als Leopold II. auf internationalem Druck 1909 seinen „Unabhängigen Kongostaat“ an den belgischen Staat abtrat.
Nach dem Ersten Weltkrieg dominierten die asiatischen Plantagen den Markt, während gleichzeitig die IG Farben an einem Verfahren zur kostengünstigen Herstellung von künstlichem Gummi arbeiteten. Die Suche nach Ersatzstoffen beruhten nicht nur auf Ehrgeiz und Erfinderfreude von Ingenieuren sondern auch auf politischen Ideen, die der bisherigen Freihandelspolitik entgegenstanden: Autarkiebestrebungen und Protektionismus griffen in Europa um sich und trugen wesentlich zur Katastrophe des Ersten Weltkriegs bei.
Der seit den 1870er Jahren projektierte aber erst 1914 fertig gestellte Panamakanal (für den die Schwimmkrane von der Maschinenfabrik Duisburg gebaut wurden) erleichterte den amerikanischen Ost-West-Handel. Bisher hatte man das gefährliche Kap Horn umrunden müssen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts war diese Passage für den Welthandel immer wichtiger geworden: Aus Nordamerika und Europa kamen Kohlen, Auswanderer und Goldgräber nach Chile, Peru, Mittelamerika und Kalifornien. Zurück brachten die Schiffe vor allem Salpeter und Guano, Getreide und Erz.
Der Erste Weltkrieg und die nachfolgenden Finanzkrisen unterbrachen die weitere Entwicklung des Welthandels abrupt. Zugleich musste Europa endgültig die Stärke der USA zur Kenntnis nehmen. Die Dominanz der „Neuen Welt“ konnotierte man mit Börsenhandel und modernen auch aufgrund des Wirtschaftstaumels der 1920er Jahre als bedrohlich empfundenen Finanztransaktionen. Die zeitgleiche Hyperinflation schürte die Ängste und ein Gefühl des Ausgeliefertseins an anonyme globale Mächte.

In den Jahren unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg war der deutsche Außenhandel mit über 33% Anteil am Volkseinkommen so stark gewesen wie dann erst wieder in den 1960er Jahren. Der Versailler Vertrag, politische und wirtschaftliche Krisen wie auch der Verlust der Kolonien führten zum Niedergang der Konjunktur. Doch die Industrie ruhte nicht. So bedienten beispielsweise die deutschen (und nicht nur sie) Spezialmaschinenbauunternehmen immer mehr Kunden in aller Welt. Dies war eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass sich wichtige Branchen außerhalb der sogenannten westlichen Welt aufbauen konnten, bzw. von Europa aus aufgebaut wurden.
Eine Schlüsselrolle spielte der Textilmaschinenbau. Der bereits zitierte Professor der Nationalökonom Paul Arndt hatte 1908 in Beantwortung der Frage „Wie viel Menschen haben zusammengewirkt, um mit den Rock, den ich trage zu verschaffen?“ weit nach Australien und Südamerika ausgeholt, die eigentliche Produktion des Tuches und das Nähen des Rockes jedoch noch nach Europa verortet. Wenige Jahrzehnte später vollzog sich langsam und stetig die Verlagerung der gesamten Textilindustrie, weniger in der Wollverarbeitung als bei der für die Massenproduktion besonders geeigneten Baumwolle. Der Zweite Weltkrieg und der Wiederaufbau in Europa unterbrachen diesen Trend nur kurzfristig. Mit dem Government of India Act 1935 kam es zu wirkmächtigen Zugeständnissen von Seiten der Regierung in London: es entstanden nun auch in Indien moderne industrielle baumwollverarbeitende Betriebe. Ähnliche Bestrebungen gab es in Südamerika, in Ägypten, der Türkei und weiteren baumwollproduzierenden Ländern.
1937 schlossen sich führende sächsische und niederrheinische Textilmaschinenbauer zur einer Interessens- und Verkaufsorganisation zusammen, um den Export von großen möglichst kompletten Fabrikanlagen vom Ballen bis zum Faden oder Tuch zu fördern und zu erleichtern. Selbstständige Vertriebs- und Handelsbüros im In- und Ausland unterstützten den Export deutscher Textilmaschinen bis in entlegene Winkel Chinas, Afrikas oder Südamerikas.

Warenströme in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Schon während des Zweiten Weltkriegs kam es zu Überlegungen, wie zukünftig große Depressionen und Handelskrisen verhindert werden könnten, da man diese als Verursacher für Weltkriege und politische Krisen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ansah. Der Freihandel unter den industrialisierten Staaten der Welt galt als Garant eines zukünftigen Weltfriedens. 1946 trat das sogenannte Bretton Woods System in Kraft, mit dem soweit wie möglich protektionistische und imperialistische Tendenzen unterbunden werden sollten. Dass das Abkommen 1944 in den USA verhandelt wurden – 44 Nationen trafen sich im Mount Washington Hotel in Bretton Woods, New Hampshire – entsprach dem endgültigen Führungsanspruch der USA in der freien Welt. Mit der Bretton Woods Konferenz traten der IMF, der International Monetary Fund, und die Vorläuferinstitution der Weltbank ins Leben. Die teilnehmenden Staaten verpflichteten sich, ihre Währung an bestimmte neue Standards zu binden. Mit dieser Regelung erreichten die USA, dass der Dollar zur maßgebenden Währung in der Welt wurde.
Ein weiterer wichtiger Schritt für die Wiederankurbelung des Welthandels nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war die Gründung der ISO, der Internationalen Organisation für die Standardisierung in Wirtschaft, Industrie und Frachtverkehr. Sie trat am 23. 2. 1947 in Kraft. Ein Jahr später folgte GATT (General Agreement on Tariffs and Trade). Bis zur Auflösung bzw. dem Übergang in die WTO (World Trade Organisation) 1995 fanden sich hier 75 Mitglieder und die Europäische Gemeinschaft zusammen.

Wie schon vor dem Ersten Weltkrieg wurde der Welthandel zum Motor der Weltwirtschaft und zwar noch stärker als zuvor. Dabei schienen die Voraussetzungen gerade für die beiden Verlierer des Zweiten Weltkriegs Deutschland und Japan zunächst nicht günstig zu sein. Trotzdem wurden gerade diese beiden Länder Gewinner der großen Globalisierungsphase von 1948 bis zur Erdölkrise 1973, da es ihnen gelang, ihre Wirtschaftsstrukturen auf die neuen Herausforderungen einzustellen.
Diercke Schulatlas 1967 „Welthandel und Weltverkehr II“. Noch immer ist der Warenaustausch der Industriestaaten (rosafarbene Felder verweisen auf Industrieerzeugnisse) untereinander vorrangig. Noch boomt die Montanindustrie. Ein großer rosa Fleck symbolisiert den sehr bedeutenden Handel der westeuropäischen Länder untereinander.
Man sprach mit Blick auf die industrialisierten Länder von der sogenannten „Triade“ – zu den Welthandelsmächten Europa und den USA war Japan getreten. Diese Triade produzierte und konsumierte allein 70 % des Welthandels. Japan exportierte insbesondere in die USA.

Noch 1939 hatte Deutschland über eine Handelsflotte mit 4 Millionen BRT verfügt, davon 3,85 Millionen verteilt auf 1350 Schiffe, den Fischfang nicht mit eingerechnet. Ende 1948 waren nur noch 175 deutsche Schiffe mit zusammen 115.941 BRT übrig geblieben. Der deutsche Anteil an der Welthandelsflotte war von 6,6% 1939 auf 0,03% 1948 zurückgegangen. Deutschland durfte zunächst aufgrund von Sanktionen der Alliierten keine Hochseeschiffe mehr führen, geschweige denn bauen. Dabei waren die Frachtschiffe auf den Weltmeeren mehr als ausgelastet. Neue Schiffe wurden dringend gesucht. Insbesondere die Koreakrise trug dazu bei, dass in deutschen Werften bald wieder Schiffe vom Stapel laufen konnten. Stahl wurde im Rahmen dieser Aufrüstung in großen Mengen gebraucht. 1951 trat die Bundesrepublik – der spätere „Exportweltmeister“ – am Weltmarkt hauptsächlich als Exporteur von Schrott in Erscheinung: Die Deutschen waren die größten Schrottexporteur weltweit überhaupt. Die Stahlwerke der Welt hungerten nach Schrott. Seit der Einführung der Siemens-Martin-Öfen um die Jahrhundertwende war Schrott neben Erz und Koks ein gleichrangiger Rohstoff für die Stahlherstellung. In den USA wurde für die Tonne
Schrott über die Hälfte mehr bezahlt als in Deutschland. Der Spiegel bezeichnete 1951 den „Breidenbacher Hof“ in Düsseldorf als das Hauptquartier der Schrotthändler. (Nr. 28, 6.6.1951) Innerhalb von Jahren fand die Bundesrepublik wieder Anschluss an die Weltmärkte. 1962 lag sie mit ihrer Handelsflotte nach Auskunft von Die Zeit an neunter Position weltweit. (Nr. 49, 7.12.1962)
Diese Aufholjagd ging einher mit einer globalen Auflösung des alten kolonialen Systems. Dies und die Blockbildung in Osteuropa und Nordasien unter der Führung der UdSSR führten zu einer Neuordnung der Welt. Italien, Frankreich, die Niederlande entließen ihre ehemaligen Kolonien in die Unabhängigkeit. Aus den neuen unabhängigen Staaten bildeten sich im arabisch-indischen Raum der asiatisch-arabische Block und die „Bewegung der Blockfreien“. Man erinnert sich an Namen wie Nasser, Tito und Nehru. Selbstbewusst bezeichneten sich die afro-asiatischen Teilnehmer am Welthandel in den 1950er Jahren als „Dritte Welt“, um sich gegen die von den USA dominierte kapitalistisch-westliche Welt und gegen den von der Sowjetunion dominierten sozialistischen Osten abzugrenzen (Konferenz von Bandung 1955).
Das British Empire wandelte sich mit der London Declaration 1949 endgültig in ein Commonwealth of Nations unter der Führung der englischen Monarchie. Strenge Glaubenssätze aller Mitglieder waren die Anerkennung der Menschenrechte und die Gebote des Freihandels. Die Gründung der EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft) 1958 weckte in Großbritannien die Befürchtung, im Welthandel isoliert zu werden. Zu dieser Zeit waren die Handelsbewegungen zwischen Großbritannien und den Commonwealth-Staaten viermal höher als die zwischen Großbritannien und Europa. Alle Versuche, europäische Nicht-EWG-Staaten in das Commonwealth aufzunehmen (z. B. Skandinavien oder gar Frankreich) liefen allerdings ins Leere.
Der Handel mit Automobilen wurde im Welthandel zwischen 1950 und 1973 immer wichtiger. Noch 1950 war Großbritannien Weltmarktführer und Exportweltmeister für Automobile gewesen. 10,6 Millionen Fahrzeuge wurden 1950 weltweit hergestellt, 1969 lag die Gesamtproduktion schon bei 29,4 Millionen. Die Bundesrepublik produziert zunächst hauptsächlich preiswerte Klein- und Mittelklassewagen. Das erste luxuriösere deutsche Erfolgsmodell war der BMW 1500.

In der Textilbranche setzte sich die durch den Zweiten Weltkrieg unterbrochene Tendenz zum Aufbau einer eigenen Textilindustrie in den baumwollproduzierenden Ländern fort. Es war der hohen Binnennachfrage nach den Kriegsverlusten zu verdanken, dass sich noch bis in die 1960er Jahre die Textilindustrie in der Bundesrepublik halten konnte. Allein die Textilhochburg Mönchengladbach verlor dann in wenigen Jahren über 20.000 Arbeitsplätze durch Abwanderung der Textilindustrie in weniger lohnintensive Länder. Der deutsche Textilmaschinenbau blieb dagegen dank technologischen Vorsprungs vorerst krisenfrei – 1978 mit einem Anteil von 30 Prozent am gesamten Welthandel. China orderte schon zu Anfang der 1960er „Mustermaschinen“ bei führenden deutschen Textilmaschinenherstellern, um diese für die eigenen Fabriken nachzubauen. Zu einem Pionier der Produktionsverlagerung ins Ausland wurde die ehemals sächsische Textilmaschinenfabrik Trützschler, die sich 1948 in Rheydt am Niederrhein (heute Mönchengladbach) neu aufgebaut hatte. 1969 bot man mit einer Tochterfirma in den USA den zu dieser Zeit noch sehr starken amerikanischen Herstellern die Stirn, 1976 in Brasilien. In Indien wurden seit 1962 bereits Trützschler-Maschinen in Lizenz gebaut, 1978 gründete Trützschler hier ebenfalls ein Tochterunternehmen. Trützschler war damit schon sehr früh ein „global player“ mit Kunden in den drei Amerikas, in Indien, der Türkei, Pakistan, Bangladesh, Korea, Thailand, Vietnam, Japan, Indonesien, Australien, der Ukraine, ihren Nachbarländern und auch noch kurz vor dem Fall des Eisernen Vorhangs der Sowjetunion.
In den 1960er Jahren gelang es den erdölexportierenden Ländern, massive Preissteigerungen am Weltmarkt für ihre Handelsware zu erwirken. Das Resultat war die sogenannte „Erdölkrise“ von 1973. Sie fiel zusammen mit einem immer deutlicher werdenden pacific turn: Der Handel auf dem indischen dann dem pazifischen Ozean nahm stetig zu – die atlantischen Handelsbeziehungen stagnierten. Allerdings beeinträchtigten eine zweite Ölpreiskrise im Jahr 1980 und wirtschaftliche Probleme in Lateinamerika und Afrika die langsam (wieder) erwachenden Süd-Süd-Warenströme erheblich. Wirtschaftswissenschaftler bezeichneten die 1980er Jahre als verlorene Dekade für die wirtschaftliche Entwicklung und Welthandelsbeteiligung der Länder der südlichen Halbkugel. Seit 1990 ging insbesondere Japans Export zugunsten der NIEs (Asian newly industrialized economies) und Chinas rasant zurück.

Die Gründung von NAFTA( North American Free Trade Agreement) 1994 konnte den Rückgang des nord-amerikanischen Exports nicht aufhalten. AM 1. Januar 1995 trat die World Trade Organisation in Kraft. Sie soll in der Nachfolge der GATT den Welthandel sowohl überwachen wie auch weiter liberalisieren. Aus Sorge, dass Europa weiter an Wettbewerbsfähigkeit einbüßen werde, wurde im gleichen Jahr unter Führung von Jaques Santer als Präsident der Europäischen Kommission der Rat für Wettbewerbsfähigkeit ins Leben gerufen. Zum 1. Januar 2002 schlossen sich zwölf Länder der Europäischen Gemeinschaft zur Eurozone 1 zusammen und starteten eine gemeinsame Währung. Der Euro wurde zur zweiten Weltwährung hinter dem Dollar.
Der Fall des Eisernen Vorhangs und die Öffnung der Märkte in den ehemaligen Ostblockstaaten hatte den Verlust der europäischen Anteile am Welthandel nicht aufhalten können. Er wurde jedoch ausgeglichen durch dessen stetige Zunahme –
zwischen 2000 und 2008 jährlich im Schnitt um 5,4 Prozent. Textilien stehen nach wie vor an der Spitze der Exportgüter. Immer wichtiger werden Produkte der Informations- und Kommunikationsbranche. Die Steigerung des Welthandelsvolumens ist auf Chinas Beitritt zur WTO 2001 zurückzuführen. Von 2001 bis 2006 vervierfachte sich der Export Chinas. Er begann mit Textilien und dann weiteren arbeitsintensiven Waren wie Schuhe oder Spielzeug, er eroberte den Elektronik- und IT-Markt und expandierte schließlich in Eisen und Stahl.
90% des Welthandels bewegen sich heute auf den Wasserstraßen der Ozeane. Tendenziell verlaufen die meisten Handels-Schifffahrtsrouten weiter in Ost-West-Richtung. Man zählt in der Welt etwa 30 umschlagstarke Häfen. Bis 1990 waren davon sechs in Europa, darunter Rotterdam, damals der größte, bzw. umschlagstärkste der Welt. 2006 sind zehn der größten Häfen in China zu finden und Shanghai ist der größte Hafen der Welt.
2013 stehen Shanghai, Singapur, Hongkong und Shenzhen in China aufgrund des Warenumschlags an der Spitze der 21 weltgrößten Containerhäfen. Rotterdam als größter europäischer Hafen befindet sich an 11. Stelle, Hamburg folgt auf Rang 14, Antwerpen auf Rang 15, vor Los Angeles als größtem us-amerikanischen Hafen.
Das Fehlen von geeigneten Häfen und eigenen Handelsmarinen erschwert vielen Entwicklungsländern die Beteiligung an den internationalen Handelsrouten. China ist gerade Namibia beim Aufbau eines modernen Hafens behilflich. Chinas Anteil an den Süd-Süd-Handelsströmen wächst. Etwa ein Viertel der auf der südlichen Halbkugel gehandelten Waren hat seinen Ursprung in China.
Immer wieder richtet sich der besorgte Blick auf sogenannte „Seltene Erden“, die entweder zum überwiegenden Teil in China vorkommen oder aber in unruhigen Gegenden der afrikanischen Sub-Sahara abgebaut werden. Eine besondere Aufmerksamkeit erreicht dabei die steigende Nachfrage nach Coltan (Abk. für Columbit-Tantalit-Erzgemisch). 2009 gingen 56 % des zentralafrikanischen Coltans in das damals selbstständige Hongkong, 42 % nach China. Aufgrund der hohen Dichte, Haltbarkeit und Biegsamkeit sowie einem sehr hohen Schmelzpunkt ist Coltan ein wichtiges Baumaterial für hochwertige elektronische und optische Geräte sowie für die Solarindustrie, die Raketentechnik, die Medizintechnik und beim Bau von Kernkraftwerken.
Der größte Teil des begehrten Erzes weltweit soll in zentralafrikanischem Boden an der Grenze vom Kongo zu Ruanda liegen. Weitere Vorkommen finden sich in Brasilien, China und Australien. Der Abbau in Afrika ist nicht nur wegen der billigen abhängigen Arbeitskräfte attraktiv. Die Korruption und geographische Gegebenheiten bieten vielfältige Möglichkeiten zum Schmuggel. Für die Ernährung der Arbeiter werden Menschenaffen gejagt. Gleichzeitig wird die Landwirtschaft behindert und vernachlässigt. Zudem steht der Coltanabbau in Verdacht, zur Finanzierung des Bürgerkriegs in Ruanda und im Kongo beizutragen. Wer Laptops und Handys zum Recycling gibt, hilft Missstände in Afrika zu vermeiden. (2013 wurden ca 1,8 Millionen Handys verkauft, aber nur 3 % recycelt.)
Die Baumwolle bleibt der Wegbereiter der Industrialisierung und Globalisierung. 2005/2006 übersprang die weltweite Baumwollproduktion erstmals die 100 Millionen Ballengrenze. (Ein Baumwollballen wiegt traditionell 480 Pfund, das Pfund zu 453,59 Gramm.) China ist der größte Baumwollerzeuger, verbraucht aber seine Baumwolle selbst, und importiert sogar Baumwolle, um daraus preiswerte Textilien zu produzieren, die wiederum in den Export gehen. Endlich gerät auch die afrikanische Baumwolle aus Sub-Sahara-Ländern in den Fokus. Sie wird hier oftmals unter ökologisch besseren Bedingungen angebaut als in Asien. Inzwischen werden in Ländern wie Lesotho, Mauritius, Äthiopien Textilfabriken aufgebaut. Die Ware findet sich bei Harrods und Lafayette aber auch bei C&A oder der Otto-Gruppe.
Wenn die USA ihre landwirtschaftliche Baumwollproduktion nicht so stark subventionieren würden, könnte sich Afrika zu einem bedeutenden Baumwollexporteur entwickeln. In Burkina Faso, das uns allen als eines der ärmsten Länder der Welt bekannt ist, kostete 2007 die Herstellung eines Pfunds Rohbaumwolle 0, 21 Dollar, in den USA 0, 73 Dollar.
2013: Die Europa-Asien-Verbindung dominiert den Welthandel. Quelle: Institut für Seeverkehrswirtschaft und Logistik

Die Globalisierung der Weltwirtschaft hat in den letzten zwölf Jahren zu einer Verdoppelung der Transportkapazität in der Seeschifffahrt geführt. 2012 wurden rund um den Globus 9,2 Mrd. T Güter verschifft – die Luftfracht und der Transport über Land kommen noch hinzu.
Der Anteil der Tanker an der internationalen Seefahrt sinkt: Von 50% 1980 auf heute rund 30%. Der Anteil der Schüttgutfrachter für Eisenerz, Kohle, Bauxit, Kaolin, Getreide liegt bei etwa 42%. Schüttgut ist vielfältig, auch Erdnussschalen aus Thailand oder den USA gehören dazu. Sie werden als preiswerter Brennstoff in holzarme Länder wie beispielsweise Südafrika gebracht, kommen aber auch in Deutschland als Pellets auf den Markt. Schüttgutfracht steht in der Regel nicht unter Zeitdruck – deshalb wird hier bereits wieder über ihre Rückkehr zur Segelschifffahrt ernsthaft nachgedacht.

Man kann Schiff umlenken, sie langsamer fahren lassen, um den Energieverbrauch zu senken, man kann Rohstoffe importieren oder substituieren, man kann die mit vielen mehr oder weniger angenehmen Begleiterscheinungen verbundene Globalisierung ablehnen oder gut heißen, sich ihr entziehen kann man nicht. Ebenso wenig kann man davor die Augen verschließen, dass der Weltfrieden von der ökonomischen Entwicklung aller Länder abhängt. Teilen ist Pflicht. Und nichts ist so wichtig wie das Teilen von Wissenschaft und Bildung. China ist dabei, Wirtschaft als neue universale Hauptideologie anzunehmen. Europa sollte Bildung entgegensetzen. Dies ist nach wie vor seine wichtigste Ware.
Thomas Straubhaar, Schweizer Ökonom, bis zum Sommer 2014 Direktor des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts (HWWI) und Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Hamburg gehört wie die Autorin des Beitrags zu einer Generation, die noch mit dem Werk „Grenzen des Wachstums“ (1972, Club of Rome) aus dem Vormittagsschlaf im Geographieunterricht herausgerissen wurden. Als entschiedener Gegner allzu verallgemeinernder Katastrophenszenarien glaubt er fest daran, dass uns der „Schnauf der Innovation“ nicht ausgeht. Deutschland, so stellt er fest, ist nicht mehr die Werkbank der Welt sondern das Land, das der Welt die Werkbänke liefert:
„Es ist falsch von der Endlichkeit der Welt und den Grenzen des Wachstums auszugehen. Die Fantasie ist frei, alles zu denken. Nur: Ob es in Zukunft mit einer Gesellschaft nach oben oder nach unten geht, wird sich am Bildungssystem entscheiden. Für eine Gesellschaft sind Bildungsaufgaben die wichtigste aller Investitionen.“
Zeithistoriker plädieren dafür, unsere Epoche als Zeitalter der Wissensgesellschaft zu umschreiben. Kreativität und Wissen sind die wichtigsten Produktivfaktoren geworden – mehr als Boden oder Kapital.

Kalter Krieg und internationale Perspektive. Das sächsisch-rheinische Textilmaschinenunternehmen Trützschler. Eine deutsch-deutsche Geschichte

Gastvortrag am Institut für Deutschlandforschung der Ruhr Universität Bochum, 29. April 2015

1938 feierte die Firma Paul Trützschler & Gey im südsächsichen Crimmitschau ihr fünfzigjähriges Bestehen. 1888 hatte Paul Heinrich Trützschler das Unternehmen gegründet. Er war als uneheliches Arbeiterkind geboren worden und hatte unter glücklichen Umständen eine Schlosserlehre absolvieren können. Mit großem Elan baute er einen Meisterbetrieb für die Reparatur von Textilmaschinen in Crimmitschau in Südsachsen auf. Daraus entstand unter geschickter Ausnutzung von Marktnischen im Bereich der Spinnereivorwerke sowie der Wiederverwertung von Textilien aller Art die Textilmaschinenfabrik Paul Trützschler & Gey. Seit 1920 lag die Geschäftsführung in den Händen der drei Söhne des Firmengründers Bruno, Willy und Karl Trützschler. Das Unternehmen hatte sich 1908 auf einem für damalige Verhältnisse recht großzügigen Fir-mengelände zwischen der Pleiße und der Trasse der Sächsischen Staatseisenbahn von Hof nach Dresden angesiedelt und sich seitdem zu einem beachtlichen Maschinenbauunternehmen entwickelt, das über eigene Patente verfügte und sich unter anderem der Entwicklung und Produktion von Reißmaschinen inklusive Entstaubung und Ablieferung sowie gesuchter Ersatzteile für die Vorwerke der Spinnereien widmete. Es handelte sich um eines der für die sächsische Industrie typischen mittelständischen Spezial-maschinenbauunternehmen.
Die Söhne führten die Erweiterung des Angebots und die Steigerung der Produktionsleistung konsequent weiter. Der älteste hatte eine technische Hochschulausbildung absolvieren dürfen, der jüngste hatte bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs kaufmännische Erfahrung in einem französischen international operierenden Elektrounternehmen sammeln können. Der Ehrgeiz der Söhne richtete sich auf den internationalen Markt. Im Jubiläumsjahr 1938 waren die Maschinen von Paul Trützschler & Gey nicht nur im Deutschen Reich und Europa son-dern weltweit gefragt. Im Textilmaschinenbau waren die deutschen Produkte selbst den amerikanischen überlegen. Im Zeichnungssaal von Paul Trützschler & Gey entstanden im Zuge der Wirtschaftsblüte in den dreißiger Jahren standardisierte Angebotszeichnungen ebenso wie Pläne für Sonderanfertigungen für wichtige internationale zum Teil schon langjährige Kunden von Sao Paulo, Ägypten und Indien bis Westfalen, von London bis ins Saarland oder von Schweden bis in die Gebiete der 1939 aufgelösten Tschechoslowakei. Trützschler – so lautete seit 1933 das Firmenzeichen auf den Typenschildern – lieferte Ersatzteile und Maschinen, konzipierte aber mehr und mehr komplette Anlagen vom Ballenöffnen bis zur Vorlage an den Karden inclusive der Entstaubung und der pneumatischen Beschickung. Bei der Zellwolle-Bearbeitung und Produktion von Celluloid-Filmen nahmen die Crimmitschauer dank einer frühen Kooperation mit den I.G. Farben eine Schlüsselposition ein. Zum fünfzigsten Firmenjubiläum 1938 entstand auf dem inzwischen bereits zu eng werdenden Firmengelände ein neues Verwaltungsgebäude, das den Anspruch von Paul Trützschler & Gey auf Weltgeltung und Modernität zum Ausdruck brachte.
Im Zweiten Weltkrieg
Der Zweite Weltkrieg zerstörte die Hoffnungen auf eine zunehmende Präsenz von Paul Trützschler & Gey am Weltmarkt. Dabei spielten nicht nur die unterbrochenen Handelswege sondern auch die nunmehr beschränkten Rohstoffzuteilungen eine wichtige Rolle. Die Pro-duktion stockte auch wegen des Verlusts von Facharbeitern, die zum Kriegsdienst eingezogen wurden. Auch diesem Unternehmen wurden Fremd- und Zwangsarbeiter zugeteilt, die jedoch in den meisten Fällen lediglich zu Hilfsarbeiten herangezogen werden konnten. Dazu konnten noch keine unmittelbaren Überlieferungen aufgefunden werden. Bei der späteren Übersiedlung in den Westen gingen die Unterlagen der Geschäftsführung verloren.
Die Maschinenbaufirma Trützschler konzentrierte sich darauf, bereits eingegangene Kontrakte einzuhalten und bestehende Kundenbeziehungen zu pflegen. Nebenbei tüftelte man weiter an der Verbesserung der Maschinen, wie auch dem Ersatz von Rohstoffen. Noch bis ins letzte Kriegsjahr belieferte das Unternehmen seine Kunden mit Kastenspeisern, Wickel- und Schlagmaschinen und schickte soweit möglich Ersatzteile rund um den Globus.
Der spätere Unternehmensgründer in Mönchengladbach-Rheydt Hans Trützschler, damals ein Junge von etwa 10 Jahren, kommentierte rückblickend die Zeit in den dreißiger Jahren so:
„Deutschland war für die meisten Bürger und besonders für die Jugend ein Käfig, aus dem man nur sehr schwer herauskommen konnte. Unsere Firma hatte ein umfangreiches Exportgeschäft, so dass mein Vater Auslandsreisen machen konnte. Dies bewunderte ich sehr und hatte keinen größeren Wunsch, als ebenfalls solche Reisen machen zu können. Diese vielen Kontakte meines Vaters führten bei ihm zu einer großen Skepsis gegenüber dem Regime, die ich als Hitlerjunge zunächst absolut nicht verstehen konnte, die mich aber doch auf das vorbereitete, das wenige Jahre später über uns hereinbrach.“
Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wurden wie schon im Ersten Weltkrieg die metallverarbeitenden Firmen zur Herstellung von Granaten, Granatenhülsen und anderen Rüstungsgegenständen verpflichtet. Die sächsischen Textilmaschinenbauer erhielten den Sonderauftrag zur Produktion von U-Bootteilen später auch von Teilen für die sogenannten V-Waffen (Vergeltungswaffen) herangezogen. Dies entspricht auch mündlicher Überlieferungen in der Familie Trützschler. Um bei der Crimmitschauer Stadtverwaltung und dem Wehrwirtschaftsamt Baugenehmigungen und entsprechende Rohstoffzuteilungen zu erhalten, gab das Unternehmen 1940 an, man sei zu 50 Prozent mit Devisen bringenden Exportaufträgen ausgelastet. Die anderen 50 Prozent des Jahresumsatzes würden „Heeresaufträge für die Marine (Sonderstufe), Aufträge für die Luftwaffe, ein verbleibender Rest für versorgungspflichtige Inlandsaufträge in kriegswichtigem Sinne“ ausmachen. In einem Schriftwechsel mit der russischen Kommandantur in Crimmitschau 1946 verwies das Unternehmen allerdings darauf, dass die Produktion für die Rüstung nur 15 Prozent des Um-satzes ausgemacht hätte. Dafür spricht, dass bei Trützschler viele Arbeitskräfte zum Kriegsdienst abgezogen wurden, was bei wehrwirtschaftlich wichtigen Betrieben nicht der Fall war. Man kann davon ausgehen, dass beide Darstellungen über den Umfang der Rüstungsproduktion politisch überfärbt waren.
Freiwillig hatte wohl kaum einer der sächsischen Mittelständler im Maschinenbau die Pro-duktion umgestellt. Auch Bruno Trützschler war nicht zu einer völligen Unterordnung bereit. Am 9. August 1940 wurde er ins Amtsgerichtsgefängnis Crimmitschau gebracht und einen Tag später auf Anordnung der GESTAPO Plauen, Außendienststelle Zwickau ins Untersuchungsgefängnis Zwickau überwiesen. Als Grund für die Einlieferung wurde „Vergehen gegen die Kriegswirtschafts-VO“ angegeben. Diese Verordnung war am 4. September 1939 in Kraft getreten. Die Kriegswirtschafts-Verordnung stellte unter anderem den „volksschädlichen“ Umgang mit Lebensmitteln, Rohstoffen oder kriegswichtigen Erzeugnissen unter Strafe. Dabei gab man dem Ermessen der Richter viel Spielraum: Das Urteil konnte auf einen Tag Gefängnis oder Todesstrafe lauten, letztere wurde allerdings erst nach entsprechender Aufforderung durch Joseph Goebbels 1942 vermehrt verhängt. Bruno Trützschler kam 1940 nach einer Woche wieder frei.
Am 15. April 1945 erreichten die Amerikaner Crimmitschau, die Diktatur des „Dritten Reichs“ war nun auch für die Trützschlers vorbei.
Demontage und Beschlagnahmung
Entsprechend den Beschlüssen der sowjetisch-amerikanisch-britischen Konferenz von Jalta auf der Krim Anfang Februar 1945 erfolgte am Sonntag, dem 1. Juli 1945, die Übergabe der Stadt an die Sowjettruppen. Die Rote Armee besetzte Crimmitschau.
Die Betroffenen konnten sich noch Jahre später mit diesem Schicksal nur schwer abfinden. Die Bitterkeit von Hans Trützschler wird in einem Kommentar im Anschluss an eine Reise durch die DDR 1976 deutlich:
„Auf der Fahrt vom Grenzübergang Herleshausen durch Thüringen und Sachsen wurde mir bewusst, welch schöne und wertvolle Gebiete Deutschlands damals in Jalta an die Russen verschenkt worden sind, wie durch geograpisches Unkenntnis von Staatsmännern und Diplomaten das Schicksal von Millionen Menschen nachhaltig beeinflusst worden ist.“
Die Sowjetunion hatte nach immensen Kriegsverlusten ein hohes Interesse am schnellen Wiederaufbau ihres Landes. Für die Versorgung der Bevölkerung wurden Energie, Nahrungsmittel und Textilien gebraucht. Textilmaschinen und überhaupt Werkzeugmaschinen waren begehrte Reparationsgüter. Nach den Vereinbarungen der Siegermächte auf dem Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 hatte jede Besatzungsmacht das Recht, aus der ihr jeweils zugeteilten Zone Reparationen zur Entschädigung des eigenen Volkes einzufordern und abzuziehen.
Im September 1945 besetzten sowjetische Truppen das Werk. Bis Dezember wurde der Betrieb zu 93 % demontiert. Ein Teil des Bestandes war in einer beherzten Aktion von Fami-lien- und Belegschaftsmitgliedern vor der Demontage in Sicherheit gebracht worden.
Die Folgen der Demontage waren für die sächsischen Textilmaschinenunternehmen verheerend. Noch 1938 waren in der später sowjetisch besetzten Zone 69, 1 Prozent des gesamten deutschen Textilmaschinenbaus produziert worden. Nach den Demontagen lagen die Kapazitäten für die Produktion von Textilmaschinen in der Sowjetzone gerade noch bei 22 Prozent. Es war vollkommen unklar, wie und woher die fehlenden Maschinen ersetzt werden sollten, um die Textilproduktion in der sowjetisch besetzten Zone und weiteren Nachbarstaaten Osteuropas wieder anzukurbeln.
Noch in den letzten Kriegsmonaten und vor allem nach Beendigung der Kriegshandlungen entschieden sich viele Unternehmen aus Furcht vor einer Sowjetisierung für einen Wechsel in die westlichen Zonen. Auch bei Paul Trützschler & Gey dachte man zu dieser Zeit daran, die Firma in den Westen zu verlagern. Unter den Gesichtspunkten der Wirtschaftlichkeit wäre dies der richtige Zeitpunkt gewesen. Das Firmengelände war für die großen kompletten Vorspinnerei-Anlagen, die man als weltweit operierendes Unternehmen Paul Trützschler & Gey schon in den 1930er Jahren bauen wollte, längst zu klein geworden. Werkzeugmaschinen mussten ohnehin neu beschafft werden, die politische Situation bzw. die wirtschaftliche Zukunft in der Sowjetzone war bestenfalls schwer einschätzbar. Doch es sprachen auch schwerwiegende Gründe für das Bleiben: In Crimmitschau lebten die Familien und die Verwandtschaft. Hier hatte man gerade komfortable Villen errichtet. Hier ruhte der Gründervater Paul Trützschler in einem Grab, das noch heute zu den schönsten auf dem Crimmitschauer Friedhof zählt. Hier bestanden wichtige Kontakte im Maschinenbau wie auch in der Textilindustrie, hier war man in sächsischem Know-how und sächsischer Lebensart verwurzelt. Die Unternehmer und ihre Familien waren in der Kirchengemeinde, im Schützenverein und weiteren geselligen Vereinigungen aktiv. Aus diesen Gründen scheuten die Trützschlers vor dem radikalen Schnitt, dem Bruch mit der Tradition und dem Verlust der Heimat zurück. Dazu trat die im Rückblick wenig nachvollziehbare Hoffnung, dass sich alles noch immer zum Besseren bekehren könne. Man hatte kaum Maschinen, kaum Rohstoffe und Zulieferteile aber Unternehmergeist und Sachverstand. Der Neuanfang konnte aus dem Vermögen der Familie finanziert werden. Am 5. März 1946 beantragten Bruno, Willy und Karl Trützschler bei der Landesverwaltung Sachsen Abteilung Wirtschaft und Arbeit in Dresden die Genehmigung des Wiederaufbaus nach erfolgter Demontage.
Auf dem Wiederaufbau lag allerdings eine weitere schwere Hypothek: Die Firma Trützschler war wie viele andere aufgrund der Befehle Nr. 124 und 126 vom 30. und 31. Oktober 1945 von der Sowjetische Militär-Administration in Deutschland (SMAD) zu Eigentum von als Kriegsverbrecher eingestuften Personen erklärt, eingezogen und unter Treuhandschaft gestellt worden. Als Kriegsverbrecher galten, diejenigen Unternehmer, die für die Rüstung produziert hatten. Dies galt für alle Zonen. In Crimmitschau waren fünf Betriebe, darunter auch Paul Trützschler Gey, betroffen.
In den westlichen Zonen wurden die meisten Betriebe schnell wieder zurückgegeben.
In der SBZ sollte ein für den 30. Juni 1946 anberaumter Volksentscheid diese Maßnahme legitimieren. In 77, 62 Prozent der Fälle entschied die Bevölkerung, dass die Enteignung der Unternehmer zu Recht durchgeführt worden war. Die entsprechenden Betriebe wurden auf eine Liste A gesetzt, d.h. sie waren endgültig in Volkseigentum zu überführen. Letztendlich machten diese nur acht Prozent von allen meldepflichtigen Betrieben in der SBZ überhaupt aus. Darunter waren allerdings die bedeutendsten Unternehmen: Sie erwirtschafteten 40 Prozent der gesamten Industrieproduktion der Zone. Nach den Plänen der SMAD hätte unbedingt auch die Textilmaschinenfabrik Paul Trützschler & Gey dazu gehören sollen. Doch waren die Trützschlers nach Ermessen des Volkes keine Kriegsverbrecher: Die Einwohnerschaft Crimmitschaus entschied, dass dieses Unternehmen vom Land Sachsen zurückgegeben werden sollte. Damit gehörte das Unternehmen auf eine Liste B, auf die alle Unternehmen gesetzt wurden, die zurück in Privateigentum zu überführen waren. Doch Trützschler wurde auf eine Liste C gesetzt. Hier waren – wie ein Rundschreiben an die Landräte und Oberbürgermeister Sachsens vom 3. Juli 1946 verkündete – Betriebe aufgelistet, welche nicht sofort enteignet werden konnten, die jedoch trotzdem unbedingt zu enteignen waren:
„Es handelt sich dabei durchweg um die größten und entscheidendsten Betriebe, mit deren Rückgabe wahrscheinlich auf keinen Fall zu rechnen ist. Diese Betriebe gelten weiter als beschlagnahmt. Den Inhabern der Betriebe muss eine Mitteilung zugestellt werden, wonach dieser als beschlagnahmt gilt und niemand außer dem Bundesland Sachsen ohne Zustimmung der SMAD deshalb Verfügung über diesen Betrieb treffen kann.“
Bruno Trützschler war nie Parteigenosse gewesen, seine Brüder Willy und Karl zeitweilig. Keiner von beiden hatte jedoch ein Parteiamt innegehabt, auch hatte die Firma Paul Trütz-schler & Gey keine Parteispenden geleistet. Die Brüder Trützschler beeilten sich, dies beim Präsidial-Ausschuss der Block-Parteien der Landesregierung Sachsen nachzuweisen und gegen den fortgesetzten Eigentumsentzug durch das Land Sachsen zu protestieren. Erst im Juni 1947 hatten sie damit Erfolg. Die Landesregierung Sachsen, Ministerium für Wirtschaft und Wirtschaftsplanung erteilte am 26.7.1947 dem Unternehmen offiziell die Genehmigung zur Wiederaufnahme der Produktion.
Schon im Laufe des Jahres 1946 war die Arbeit in den Werkshallen von Trützschler wieder aufgenommen worden. Was die Beschaffung von Rohstoffen und Materialien, die bisher vielfach aus dem Westen geliefert worden waren, wie auch die innerdeutschen Liefer- und Zahlungswege anging, so musste eben auf ein wirtschaftliches und politisches Zusammenwachsen der vier deutschen Zonen vertraut werden.
Bis Ende 1946 änderte sich jedoch die politische Großwetterlage. Die Alliierten verfolgten in ihren Zonen zunehmend eigene Interessen. Am 1. Januar 1947 kam es zur Bildung der Bi-Zone, zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit der amerikanischen und britischen Zonen. Mit der Truman-Doktrin vom 12. März 1947 zeichnete sich eine neue Politik des Containments, der Eindämmung des sowjetischen Machtbereichs, ab. Im Juli 1947 schlug Wirtschaftsminister Byrnes im Rahmen der Außenministerkonferenz in Paris den wirtschaftlichen Zusammenschluss aller deutschen Zonen vor. Molotow wollte dem nur zustimmen, wenn die Regeln und Vorgaben der SBZ auf alle Zonen angewandt würden, das war unannehmbar. Spätestens jetzt wurde deutlich, dass Deutschland auseinanderdriftete. Das Unternehmen Paul Trützschler & Gey bekam dies deutlich zu spüren.
Der Interzonenhandel wurde mehr und mehr eingeschränkt, die Kontrollen schärfer und Genehmigungsverfahren immer umständlicher. Natürlich arbeitete Trützschler mit Tricks wie viele andere Unternehmen in der sogenannten Ostzone auch. So erhielten die damals noch sehr zahlreichen Kunden in Italien durchaus Ersatzteile für ihre Trützschler-Maschinen. Allerdings nicht von Trützschler selbst sondern von der langjährigen Vertretung der Firma in Italien Luigi Winsemanns. Dieser ließ mit Einverständnis von Trützschler in einer kleinen italienischen Gießerei die benötigten Teile herstellen und gab sie an die Kunden weiter. Formmodelle oder entsprechende Konstruktionspläne hatte man ihm offensichtlich zu diesem Zweck zukommen lassen können.
Von Crimmitschau aus konnten im Geschäftsjahr 1946/47 lediglich 22 Maschinen ausgeliefert werden – die meisten davon gingen zu Betrieben in der SBZ, vor allem auch in die Filmfabrik Wolfen. Die Agfa Filmfabrik Wolfen war schon vor dem Krieg Kunde von Trützschler gewesen. Seit 1946 befand sie sich in sowjetischem Staatseigentum. Die Anlagen wurden demontiert und dienten zum Aufbau des Farbfilmwerks Nr. 1 der UdSSR in Schostka/Ukraine.
Trützschler sorgte sich um die internationale und vor allem westeuropäische Kundschaft. Wie sollte man den Service aufrecht halten, wie konnten neue Aufträge erfüllt werden? Daraus entstand spätestens 1947 bei Paul Trützschler & Gey die Idee einer engeren Zusammenarbeit mit der DESPAG (Deutsche Spinnereimaschinenbau Ingolstadt), die Trützschler-Maschinen in Lizenz bauen wollte. Mit diesem bayerischen Unternehmen hatte man bereits vor dem Zweiten Weltkrieg mehrere große Aufträge abgewickelt. Ein Zusammengehen der beiden weltweit bekannten Spezialmaschinenbauunternehmen konnte Probleme bei der Beschaffung von Rohstoffen und Bauteilen sowie bei Lieferungen in den Westen lösen. Andererseits hätte Trützschler sich mit einer zu weit reichenden Lizenzvergabe in seiner Existenz gefährdet. Deshalb war der Schritt auch in der Familie umstritten.
Weder die SMAD noch die am 4. Juni 1947 gebildete Wirtschaftskommission des Landes Sachsen konnten ein Interesse daran haben, dass sich die Unternehmerfamilie Trützschler mit den Umständen arrangierte und wieder fest etablierte. In der sowjetisch besetzten Zone sollte ein großes volkseigenes Kombinat für den Bau von Maschinen der Textil- und Bekleidungsindustrie aufgebaut werden. Für diesen VEB Textilmaschinenbau Karl-Marx-Stadt war Paul Trützscher & Gey mit seiner Produktpalette für die Vorspinnerei fest eingeplant. Die Frage war nun, wie ein Enteignungsverfahren plausibel und entsprechend den Rechtsnormen der neuen noch in der Entwicklung befindlichen sozialistischen Gesellschaft durchgeführt werden konnte.
Die Übersiedlung des Unternehmens in den Westen
In etwa zeitgleich mit der Errichtung der Bizone, also zum Jahreswechsel 1946/47, begann der SMAD, Druck auf die Unternehmerfamilie Trützschler aufzubauen. Dieser richtete sich zunächst gegen die beiden Unternehmenserben, auf Hans, den ältesten Sohn von Karl Trütz-schler, und auf Hermann, den einzigen Sohn von Willy Trützschler. Bruno Trützschler hatte keine Kinder.
In dieser Zeit wurde der 19jährige Hans Trützschler mehrmals von sowjetischen Agenten verhört. Es folgte die Nachricht, dass er mit einer Zwangsverpflichtung im Uranbergbau der Sowjetischen AG „Wismut“ in Annaberg zu rechnen habe. Die Familie beschloss, den Neun-zehnjährigen, der unter den herrschenden Verhältnissen keine Chancen auf ein Studium noch auf eine adäquate berufliche Ausbildung hatte, nach Westdeutschland zu schicken. Im niederrheinischen Textilzentrum hatte Trützschler viele Kunden. Der in dieser Region schon lange Jahre als Vertreter des Unternehmens Paul Trützschler & Gey fungierende Kurt Müllges besorgte für Hans Trützschler die aufgrund der großen Wohnungsnot in den zerstörten rheinischen Städten am Niederrhein schwer zu erhaltende Zuzugsgenehmigung und eine Stelle als bezahlter Praktikant in einer Spinnerei. Es wird den rührigen Handelsvertreter sehr gefreut haben, dass der junge Mann bereits etliche Konstruktionspläne für Trützschler Maschinen im Gepäck versteckt über die Grenze mitbrachte. Womöglich dachte man auch für die niederrheinische Region bereits über ein ähnliches Geschäftsmodell wie in Italien nach.
Sein drei Jahre älterer Cousin Hermann Trützschler erhielt Ende April 1947 die Aufforderung, sich im Uranbergbau Annaberg als Arbeitskraft zu melden. Da er nach der Flucht von Hans Trützschler eine Überwachung befürchten musste, arbeitete er bis Ende Mai übertage in Annaberg. Dann verließ auch er die SBZ und ging zu seinem Cousin nach Rheydt (heute ein Stadtteil von Mönchengladbach), wobei auch diesmal wieder Kurt Müllges behilflich war. Auch Hermann Trützschler fand zunächst eine Anstellung als Praktikant bei einem ehemaligen Kunden von Paul Trützschler & Gey.
Die schnelle Instandsetzung der Textilbetriebe nach dem Zweiten Weltkrieg konnte nur mit Hilfe eines leistungsfähigen Textilmaschinenbaus gelingen. Textilien wurden von der deutschen Bevölkerung, die im Krieg vielfach alles verloren hatte, dringend gebraucht. Aber auch am internationalen Markt war der Bedarf groß. Rohstoffe standen in mehr als ausreichenden Mengen zur Verfügung, so dass gewinnbringende Exporte erwartet werden konnten. Im Westen insbesondere am Niederrhein war ein großer Teil der Textilbetriebe zerstört worden, während andererseits im westdeutschen Textilmaschinenbau ganze Produktgruppen fehlten, die bisher nur in Sachsen – eben auch von Trützschler – hergestellt worden waren.
Der Wirtschaftsrat der Bizone förderte die Übersiedlung der bekanntesten und wichtigsten Unternehmen aus Sachsen. Treibende Kraft war Dr. Eduard Strauss, der seit 1936 in Chemnitz für die Fachgruppe Textilmaschinen im VDMA (Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbauer) sowie die Kartellgemeinschaft der deutschen Textilmaschinenindustrie gearbeitet hatte und im Zweiten Weltkrieg Geschäftsführer beider Verbände geworden war. Er hatte nach Beendigung der Kriegshandlungen zunächst versucht, den Textilmaschinenbau in Sachsen wieder anzukurbeln. Doch schon nach wenigen Monaten war er zur Übersiedlung in den Westen bereit. Die britische Militärregierung war ihm und seiner Familie dabei behilflich. Strauss erhielt eine Funktion als Referent für den „Leichten Maschinenbau“ im Zentralamt für Wirtschaft in der britischen Besatzungszone, später der Bizone. In dieser Funktion wie auch seit Oktober 1948 als Geschäftsführer der wieder aufgebauten Fachgemeinschaft Textilmaschinenbau im VDMA mit neuem Sitz in Frankfurt am Main stand er der Familie Trützschler bei ihren Überlegungen über eine Lizenzvergabe an die DESPAG in Ingolstadt oder den Aufbau eines Ersatzteilwerkes beziehungsweise einer Filiale in Rheydt und schließlich bei der vollständigen Verlagerung des Unternehmens in den Westen mit Rat und Tat zur Seite.
Nach intensiven Diskussionen zwischen Bruno, Willy und Karl Trützschler wurde im Herbst 1947 die Gründung eines Trützschler-Standortes im Westen endgültig entschieden. Dabei war ausdrücklich nicht von einer kompletten Übersiedlung die Rede, vielmehr sprach man zunächst von einem „Zweigbetrieb Rheydt“ . Bruno Trützschler hielt sich nun immer wieder für längere Zeit auch am Niederrhein auf, um mit Kurt Müllges und Vertretern der Spinner am Niederrhein das Vorhaben weiter zu konkretisieren und notwendige Maßnahmen wie Behördengänge etc. in die Wege zu leiten.
Der Familie war die Gefahr dieses Schrittes bewusst. Die Bespitzelungen durch den SMAD wurden registriert, in ihren Ausmaßen aber nicht erkannt.
Im Januar 1948 trat Trützschler & Co. offiziell am Standort Rheydt ins Leben.
Wie die Familie als deutsch-deutsches Unternehmen wirtschaften wollte, ist nicht mehr genau nachzuvollziehen. Nach Erinnerungen von Hans Trützschler glaubten viele Deutsche in der SBZ noch standhaft an die Möglichkeiten einer Wiedervereinigung, während bei anderen das Bewusstsein, dass „die sowjetische Besatzungszone vom restlichen Deutschland abgetrennt würde“, immer stärker wurde. In der Familie Trützschler wurde die Standortgründung im Westen insbesondere von Karl Trützschler, dem Kaufmann der Familie und jüngstem Inhaber, sowie seinem Sohn Hans sowie seinem Neffen Hermann vorangetrieben.
Karl Trützschler unterstützte von Crimmitschau aus wohlwollend die Aufbauarbeit seines Sohnes und seines Neffen. Seine Briefe schwankten zwischen Traditionsbewusstsein und der Bereitschaft, sich den neuen Verhältnissen anzupassen und konsequent darauf zu reagieren:
„Wir leben in einer außerordentlich bewegten Zeit und es müssen oft schnelle Entschlüsse gefasst werden und dies meist unter besonderen Umständen…. Du weißt ja, die eine Zeit bleibt der anderen nichts schuldig und wir wollen schließlich die „Trützschlers“ bleiben, die wir waren… Vor allem aber wollen wir den Namen Trützschler in guter Geltung zu halten versuchen, dann wird sich alles weitere von selbst und leichter gestalten.“
Der SMAD beziehungsweise die Wirtschaftskommission des Landes Sachsen registrierten jedes Vergehen der Trützschlers gegen Militärbefehle und Wirtschaftsverordnungen, allerdings ohne vorerst einzuschreiten. Stattdessen wurde Beweismaterial gesammelt – die Agenten waren sowohl im Westen wie im Osten tätig. Betriebsrat und Gewerkschaftsgruppenleitung stellten sich gegen die Geschäftsinhaber und erhoben massive Vorwürfe. Trützschler wurde als reaktionäres, NSDAP-nahes Rüstungsunternehmen dargestellt. Jetzt kam es auch zu Verhören und kurzfristigen Inhaftierungen der Firmeninhaber.
Ein Hinweis aus dem Betriebsrat lieferte am 5. April 1948 (zwei Tage zuvor war das European Recovery Programm des amerikanischen Außenministers George C. Marshall in Kraft getreten) der Staatsanwaltschaft Zwickau den Anlass für eine gründliche Werks- und Hausdurchsuchung bei den Trützschlers. Man fand deklarierungspflichtige aber nicht angegebene Materialien, Zulieferteile und Werkzeuge auf dem Firmengelände, in den Privatvillen aber auch in der Textilfabrik der mit den Trützschlers verschwägerten Gebrüder Pfau. Die Beweislage reichte für eine umgehende Inhaftierung von Karl und Willy Trützschler. Auch Bruno Trützschler wurde angeklagt, er befand sich jedoch gerade wieder einmal im Westen. Eine Rückkehr nach Crimmitschau war für ihn nun unmöglich geworden. Ihm drohte ebenfalls die sofortige Verhaftung. Nach längerer Krankheit starb er 22. Januar 1949 in Rheydt.
Nach der Inhaftierung der beiden Geschäftsführer bestellte die Regierung des Landes Sachsen einen Treuhänder, der bis zur endgültigen Überführung von Paul Trützschler & Gey in Volkseigentum das Werk leiten sollte. Die Söhne in Rheydt, Hermann und Hans Trützschler, hatten seitdem und endgültig keine Möglichkeit mehr, Lieferungen aus dem väterlichen Unternehmen zu beziehen.
Paul Trützschler & Gey war zwischen die Fronten des sich anbahnenden Kalten Krieges gera-ten. An ein Festhalten des Standorts Crimmitschau war endgültig nicht mehr zu denken, die Zukunft des Unternehmens lag nun allein im Westen.
Nun konnte es nur noch darum gehen, so schnell wie möglich eine eigene Produktion am neuen Standort Mönchengladbach-Rheydt aufzubauen. Verstärkt bemühten sich Belegschafts- und Familienmitglieder, Konstruktions-, Patent- und Offertenzeichnungen, die im Zeichnungssaal des 1938 errichteten neuen Verwaltungsgebäudes in Crimmitschau fein säuberlich sortiert lagerten, in den Westen zu schmuggeln. Das war Wirtschaftssabotage und gefährlich.
Obwohl Willy und Karl Trützschler bis zum Beginn der Gerichtsverhandlung im Frühjahr 1949 immer wieder abwechselnd für kurze Phasen aus der Haft entlassen wurden, nutzten sie diese nicht zur Flucht. Möglicherweise wollten sie sich gegenseitig oder auch ihre Familien nicht gefährden. Noch immer waren sie bereit, um die Existenz des Werkes in Crimmitschau zu kämpfen- „bis zum letzten Atemzuge“ , wie Karl Trützschler in seiner Verteidigungsrede am Prozesstag versicherte.
Dieser Prozess fand am 30. Mai 1949 vor der 9. Große Strafkammer des Landgerichts Zwickau statt. Angeklagt waren Willy und Karl Trützschler sowie auch der verstorbene Bruno Trützschler wegen „Wirtschaftssabotage in Tateinheit mit Wirtschaftsverbrechen“. Noch am gleichen Tag erfolgte das Urteil: Fünf Jahre Zuchthaus unter Anrechnung der bisher erlittenen Polizei- und Untersuchungshaft, Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte und Entzug des Eigentums an der Firma Paul Trützschler & Gey verbunden mit dem Verbot, einen wirtschaftlichen Betrieb in leitender Tätigkeit in dieser Zeit führen zu dürfen.
Die Staatsanwaltschaft legte den Angeklagten Schiebung in die „vom amerikanischen Imperialismus beherrschenden Westzonen“ zur Last und verwies unverblümt darauf, dass dem Crimmitschauer Textilmaschinenbauunternehmen eine Schlüsselrolle für den wirtschaftlichen Aufbau im Osten beigemessen wurde:
„Gerade der Betrieb der Angeklagten ist für die Entwicklung einer demokratischen Friedens-wirtschaft für die Bevölkerung der Ostzone von ausschlaggebender Bedeutung. Der Bedarf südosteuropäischer Firmen an Textilmaschinen ist, wie allgemein bekannt, ein sehr großer. Gerade dieser Spezialbetrieb bedeutet für die Entwicklung der deutschen Friedenswirtschaft wegen des Exportes nach den südosteuropäischen volksdemokratischen Ländern die Grund-lage unseres Außenhandels.“
Die Behörden der DDR gaben 1955 zu, dass die posthume Verurteilung des im Januar 1949 verstorbenen Bruno Trützschler einen Verstoß gegen das Völkerrecht darstellte, jedoch aus wirtschaftlichen Gründen unumgänglich war. Lisbeth Trützschler, die Erbin und Witwe von Bruno Trützschler kämpfte bis zu ihrem Tod Anfang Januar 1957 vergeblich um eine Aufhebung des Urteils und Anerkennung ihres rechtmäßigen Eigentums an einem Drittel der Firma. Hätte man ihren Forderungen stattgegeben, wäre eine vollständige Enteignung von Paul Trützschler und Gey und die reibungslose Eingliederung in die volkseigenen Textima Werke nicht möglich gewesen. Erst den Erben von Lisbeth Trützschler wurde eine Entschädi-gung zugestanden, die allerdings aus dem DDR-Staatshaushalt bestritten wurde, um den VEB Spinnereimaschinen nicht zu belasten.
Die Haftbedingungen für Willy und Karl Trützschler waren zermürbend. Willy Trützschler starb im Dezember 1952 während der Haftzeit. Der ebenfalls schwer erkrankte Karl Trützschler wurde nach Verbüßen der Haftzeit im Februar 1953 aus dem Zuchthaus Zwickau entlassen, allerdings unter den Auflagen einer zweijährigen Bewährung und dem Verbot, seine ehemalige Firma zu betreten oder sonst ein anderes Unternehmen zu gründen. Zusammen mit seiner Familie flüchtete er in den Westen, um im neuen Trützschler-Unternehmen in Mönchengladbach-Rheydt die Rolle eines Seniorchefs anzunehmen.
Seit 1947 hatten Hermann und Hans Trützschler auf dem Trümmergrundstück einer ehemaligen Spinnerei den Betrieb aufgebaut. Für die Beschaffung gebrauchter und neuer Werkzeug-Maschinen leistete die Textilwirtschaft im Rheinland und in Westfalen Kredite, die in Form von Wartungsdiensten, Reparaturen, Ersatzteilen und wenig später auch neuen Textil-Maschinen wieder zurückgezahlt wurden. Insbesondere der führende Mönchengladbacher Textilfabrikant Heinrich Pferdmenges (Baumwollspinnerei Pferdmenges & Scharmann) und nach seinem Tod 1947 sein Sohn Hans dirigierten die beiden jungen Unternehmer aus Crimmitschau durch die rheinische Bürokratie und machten sie in Unternehmerkreisen bekannt.
Noch bis in die 1960er Jahre wechselten Mitglieder der Crimmitschauer Stammbelegschaft nach Rheydt. Ein besonderer Verlust für die bis zum 31. 12 1951 unter Treuhänderschaft stehende und erst dann in die VEB Spinnereimaschinenbau eingegliederte Firma Paul Trütz-schler & Gey war dabei der leitende Entwicklungsingenieur Erich Meinicke, der mit Hilfe von Hans Trützschler in den Westen floh. Meinickes Arbeit wurde von Sachsen aus weiterhin aufmerksam verfolgt.
Vor allem mit seiner Hilfe positionierte sich Trützschler wieder am Weltmarkt. Alle Neuentwicklungen, die Trützschler auf Messen in den 1950er und 1960er Jahren vorstellte wurden von Beobachtern des VEBs in Karl-Marx-Stadt genau registriert. Detaillierte Berichte und Prospektmaterial erreichte die Leitung der Textima und wurde von dieser an das ehemalige Trützschler-Stammunternehmen in Crimmitschau weitergereicht. Hier arbeitete man mit den verbliebenen Konstruktionszeichnungen aus den 1920er und 1930er Jahren, die hier genauso wie die in den Westen geschmuggelten, als Basis für die Weiterentwicklungen der Maschinen dienten. Textima-Beobachter waren auch auf der Hannover-Messe und den ersten Textilmaschinenbau-Messen nach dem Krieg in Lille, Brüssel oder Basel präsent. Die Textima selbst stellte zum ersten Mal 1971 in Paris aus und trat nach Aussage von dama-ligen Fachbesuchern danach kaum mehr in Erscheinung.
Andererseits war Trützschler schon 1970 auf der INLEGMASCH, der Maschinenbaumesse in Moskau präsent.
Der Erfolg von Hermann und Hans Trützschler beruhte auch darauf, dass deutsche, europäische und internationale Kunden Trützschler die Treue hielten – sofern sie nicht zu den neuen RGW-Ländern gehörten. Die Kunden richteten zunächst ihre Wünsche und Bestellungen weiterhin an die gewohnte Adresse in Crimmitschau, wurden aber sehr schnell auf die Neugründung in Rheydt aufmerksam gemacht – und zwar von einem Mitarbeiter in Crimmitschau, dem Finanzbuchhalter Fritz Wunderlich, der bis zu Beginn der 1950er Jahre in Crimmitschau bei der alten Firma blieb und Schreiben früherer internationaler Kunden in Kopie nach Rheydt weiterleitete. Erst zu Beginn der 1950er Jahre ging er in den Westen, um bei Trützschler in Rheydt mitzuarbeiten. In dieser Zeit war Trützschler wieder auf internati-onalen Fach-Messen präsent.
Schon vor dem Zweiten Weltkrieg hatte Trützschler enge Beziehungen zu indischen Geschäftspartnern aufgebaut. So hielt sich noch kurz vor Ausbruch des Krieges für einige Monate der Sohn eines dieser indischen Kunden als Praktikant im Crimmitschauer Unterneh-men auf. Daraus wurde eine Familienfreundschaft, die sofort nach dem Krieg wieder aufgenommen wurde. Ein anderer indischer Kunde sorgte über Beziehungen in die USA dafür, dass Trützschler mit Care-Paketen versorgt wurde. Aufgrund der Bedeutung des indischen Marktes führte die erste große Geschäftsreise von Hans Trützschler nach Indien. Das war 1953, kurz nach seiner Hochzeit. Die Reise dauerte mehrere Wochen und sollte dazu dienen, eine zuverlässige Vertretung für Trützschler in Indien zu finden.
1955 absolvierten die Trützschler Monteure ihre ersten längeren Auslandsaufenthalt. Für zwei bis drei Jahre waren sie in Ägypten damit beschäftigt, Maschinenanlagen aufzubauen. Das Unterfangen wurde durch die vom ägyptischen Ministerpräsidenten Abd el Nasser mit Großbritannien ausgefochtene Suez-Krise unterbrochen, dann aber erfolgreich beendet.
Die Trützschler Mitarbeiter lernten, im Ausland nicht nur mit politischen Krisen umzugehen sondern auch technologische Herausforderungen zu meistern: als die ersten Schaltschränke nach Indien geliefert wurden, empfahlen sie im Bericht an die Geschäftsführung in Mön-chengladbach dringend eine „ratttensichere“ Abdichtung von Schaltschränken.
Den südostasiatische Markt deckte Trützschler ab 1957 über eine Zusammenarbeit mit der Tri-Union Managment Company in Hongkong abgedeckt. Der Bitte Chinas, je eine Trützschler-Maschine zu liefern, kam man 1960 nach, wohl wissend, dass diese nicht der Garnproduktion dienen sollten, sondern Muster für den Nachbau waren.
Zu dieser Zeit gehörte die Führungsrolle auf dem Textilsektor jedoch noch der USA und Indien. In den 1960er Jahren begann Trützschler, sich in den florierenden Textilmaschinenmarkt der USA einzumischen – zunächst durch Kooperation mit einer amerikanischen Firma, dann mit eigener Produktionsstätte und der Gründung des ersten Tochterunternehmens im Ausland. Ähnliche Schritte hatte man zu dieser Zeit auch in Indien eingeleitet.
1978 nahm Hans Trützschler an einer 12köpfigen deutschen Managerdelegation nach China teil und erhielt einen ersten Eindruck über den noch weitgehend brachliegenden riesigen Markt in der Volksrepublik. Daraus entstanden lockere Beziehungen zum Ministerium für Textilmaschinenbau in China.
Ägypten legte 1965 den Grundstein für die diplomatische Anerkennung der DDR im Nahen Osten. Aus Dankbarkeit intensivierte Walter Ulbricht die wirtschaftlichen Beziehungen zu diesem Land. Mit dem Bau des Assuan Staudamms sollte 1971 den umgesiedelten ehemali-gen Bauern neue Arbeitsmöglichkeiten in der Textilindustrie ermöglicht werden. Baum Aufbau der neuen Textilfabriken versprach die DDR die Unterstützung durch Lieferung der Textilmaschinen. Leider war die Textima nicht in der Lage, die erforderlichen Vorspinnmachinen zu liefern. Um die Ägypter nicht zu enttäuschen, bat Ulbricht (nolens volens) Trützschler in Rheydt um Hilfe. Hier freute man sich über den lukrativen Auftrag, bestand jedoch darauf, dass den Maschinen nicht wie DDRseits gewünscht Textima Schilder aufgeschraubt wurden sondern die eigenen Trützschler-Typenschilder. Der Handel wurde unter Zuhilfenahme der Interzonenhandelsstelle des Regierungspräsidenten in Düsseldorf abgewickelt.
Unter den alten Korrespondenzunterlagen in der Firma fand sich auch ein Briefwechsel aus den 1960er Jahren mit einem ehemaligen Trützschler-Kunden in Jugoslawien, heute Slowenien, der genaue Auskunft über eine neu entwickelte Maschine für das Öffnen der Baumwollballen erhielt – inclusive Großdias mit Maschinenzeichnungen.
Zum 75jährigen Betriebsjubiläum erschien 1963 die erste Firmenchronik. Natürlich wurde darin der Standortwechsel von Sachsen an den Niederrhein thematisiert und hübsch illustriert, aber nicht historisch aufgearbeitet. Viel mehr Augenmerk legte man in der aufwändig gestalteten Publikation darauf, Trützschler wieder als leistungsfähiges, weltweit operierendes Unternehmen darzustellen. Expansion und Zukunft beherrschten die Themen.
Trützschler sammelte in den folgenden Jahren weitere Patente, baute die Produktionslinien weiter aus und gründete als eines der ersten deutschen mittelständischen Unternehmen überhaupt global verteilt Vertriebsniederlassungen sowie Tochterunternehmen in den USA (1969), Brasilien (1975), Indien (1978), zuletzt auch Shanghai (2001).
Doch diese Konzentration auf die Herausforderungen der Gegenwart bedeutete nicht, dass die Vergangenheit verdrängt oder vergessen wurde. Insbesondere Hermann Trützschler pflegte die sächsische Tradition und seinen sächsischen Dialekt. Er sammelte Nachrichten und Publikationen aus Crimmitschau und war bei Alumni-Treffen seines Internats präsent. Er, der ältere der beiden Firmeninhaber, unterstützte den Aufbau der internationalen Standorte und Kundenbeziehungen von Trützschler nach Kräften und blieb doch der bodenständige verlässliche sächsische Maschinenbauer und Unternehmenschef. Sein jüngerer Kompagnon Hans Trützschler übernahm dagegen die Rolle des hochdeutsch sprechenden, schnell an das rheinische Unternehmertum angepassten, auf internationaler Bühne sicher agierenden Kaufmannes. Er trat in die CDU ein und übernahm wichtige Führungspositionen innerhalb des Textilmaschinensektors der VDMA .
Der Aufbau der drei Tochterfirmen in den USA, Brasilien und Indien in den 1980er Jahren erforderte ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und Kraft des Mutterunternehmens in Mön-chengladbach. Ein dichtes Netz von Trützschler eigenen Handels- und Servicevertretungen zog sich von einem Textilland zum nächsten über den Globus.
Zum hundertjährigen Firmenjubiläum 1988 erschien keine Festschrift sondern lediglich eine Imagebroschüre.
Keine Wiedervereinigung
Niemand konnte im Jubiläumsjahr ahnen, dass ein Jahr später die deutsch-deutsche Teilung ihrem Ende entgegen gehen würde. Die sich anbahnende Perestroika war allerdings bei den Textilmaschinenherstellern in Mönchengladbach bereits angekommen.
1987/88 erhielten sie einen großen Gemeinschaftsauftrag für den Aufbau einer Textilfabrik in Riga, es war – vier Jahre vor der Auflösung der Sowjetunion – der erste Großauftrag in der UdSSR. Der Austausch mit internationalen Kunden und die Tätigkeit beim VDMA führten mit Sicherheit auch zu einem ziemlich genauen Bild über den Zustand des Textilmaschinenbaus in der DDR. Seit 1986 war ein drastischer Rückgang in der Produktion des Spinnereimaschi-nenbaus in der DDR registriert worden. Hauptabsatzmärkte waren die UdSSR und weitere Ostblockländer, dann mit Abstand Kuba, Italien und Brasilien. 1987/88 versuchte Trützschler mit der Textima eine Kooperation zur Fertigung von Deckelstäben für die Karden – allerdings kam diese Kooperation aufgrund von technischen Schwierigkeiten und daher einer zu langsamen und geringen Fertigungsmöglichkeit in dem Textima-Zweigwerk nicht zustande.
Es ist wohl anzunehmen, dass die deutschen Unternehmer besser und früher über den desaströsen Zustand vieler Unternehmen der DDR informiert waren, als die führenden Politiker zur Zeit der Wende. Die Familie Trützschler hatte zudem über die Jahrzehnte der Trennung hinweg familiäre und freundschaftliche Kontakte nach Südsachsen unterhalten.
Von daher konnten sie sich über den Zustand ihres alten Stammwerks keine Illusionen ma-chen.
Trotzdem ließ sich auch Trützschler kurzfristig von der euphorischen Woge der Wiedervereinigung erfassen.
Die Unternehmensberater Roland Berger & Partner erhielten bereits einen Monat nach Fall der Mauer ihren ersten Beratungsauftrag von einem DDR Kombinat. Auch die Organisationsstruktur der Treuhand und ihrer 15 Außenstellen stammte schließlich von Roland Berger. Die Wirtschaftsexperten hielten mit ihrer Diagnose der darniederliegenden DDR-Unternehmen nicht hinter den Berg und stellten auch dem VDMA eine Expertise zur Verfügung: zu hohe Stückkosten, zu niedrige Produktivität, ein immenser Personalüberhang, zu hohe Fertigungstiefen, zu viele Dienstleistungsfunktionen, mangelnde Marktorientierung, das Auseinanderfallen der Ostmärkte, Infrastrukturprobleme, unsichere, bzw. nicht für die Marktwirtschaft ausgebildete Manager.
Trotzdem versprach Roland Berger, dass die DDR bis zur Jahrtausendwende das „Japan des europäischen Binnenmarkts“ werden könne und man schon 1995/6 im industriellen und im Dienstleistungssektor westdeutsches Niveau erreichen werde. Bundeskanzler Kohl stand mit seinem Versprechen von blühenden Landschaften in der ehemaligen DDR also nicht so ganz alleine.
Nach dem Gesundungsrezept von Roland Berger sollten westliche Investoren die Verantwortung für den Fortbestand von DDR-Unternehmen übernehmen. Wichtig wäre der Aufbau eines neuen Mittelstands. Schon im März 1990 stand der Grundsatz „Rückgabe vor Entschädigung“ fest.
Im Frühjahr und Frühsommer 1990 wurden die Treuhandgesetze zur Privatisierung volksei-genen Vermögens erlassen. Die Region Chemnitz hatte die höchste Zahl an Reprivatisie-rungsanträgen zu bearbeiten.
Auch das ehemalige Trützschler-Werk in Crimmitschau hoffte auf Privatisierung durch einen Mittelständler, in erster Linie richtete sich diese Hoffnung auf die Vorbesitzer in Mönchen-gladbach.
Die Geschäftsleitung von Trützschler war grundsätzlich und unmittelbar zum Engagement bereit. Schon am 19. Dezember 1989 wandte sie sich an den Generaldirektor der Textima Rudi Rosenkranz in Karl-Marx-Stadt, bzw. Chemnitz. Trützschler verwies darauf, dass man schon vor einigen Jahren eine Zusammenarbeit mit der Textima angestrebt habe, dies zwar ohne Erfolg, aber nun wolle man es unter den günstigeren Bedingungen wieder versuchen. Als Antwort erhielt die Geschäftsführung einen Weihnachtsgruß von der Textima. Der 52jährige Rosenkranz, der 1984 von der Universität Chemnitz die Ehrendoktorwürde erhal-ten hatte und für 30.000 Belegschaftsmitglieder verantwortlich war, hüllte sich in Schwei-gen. Laut Spiegel vom 11. Dezember 1989 trug er noch immer mit Stolz sein SED-Parteiabzeichen am Revers, hatte sich aber längst resigniert eingestanden, dass er seinen Stuhl abgeben müsse.
Etwa zur gleichen Zeit wandte sich auch die Betriebsgewerkschaftsleitung der Textima in Crimmitschau an Generaldirektor Dr. Rosenkranz und bat diesen, beim ehemaligen Firmen-inhaber im Westen Kontakt aufzunehmen, um Möglichkeiten der Kooperation zu sondieren. Da man von Rosenkranz nichts hörte, suchte Herr Ey, Vorsitzender der Betriebs-Gewerkschaftsleitung des Werkes Crimmitschau, Stammbetrieb des Kombinates Textima VEB Spinnereimaschinenbau Karl-Mark-Stadt, am 10. Januar 1990 selbst den Kontakt zu Trützschler in Mönchengladbach, und zwar mit einem Schreiben an den Vorsitzenden des Betriebsrates von Trützschler. Diesem teilte man die Sorge mit, dass der Stammbetrieb der Textima die Produktion Mitte der 1990er Jahre ganz einstellen werde. Damit sei das Be-triebskollektiv aber nicht einverstanden. Man erinnerte an die 100jährige Unternehmenstra-dition in Crimmitschau, die nicht untergehen dürfe. Auch die DDR-Belegschaft sah sich als Erbe und Nachfolger von Paul Trützschler & Gey.
Man fürchtete also keinen schnellen Konkurs sondern erwartete, dass die Textilmaschinen-fabrik der Textima in Crimmitschau den nächsten 5-Jahresplan überstehen würde, also noch bis Mitte der 1990er weiter produziert werden könne. Zugleich richteten sich die Hoffnun-gen der Belegschaft auf die „alten Firmenchefs“ sowie die Solidarität und Unterstützung der Trützschler-Belegschaft in Mönchengladbach.
Der Vorsitzende des Betriebsrats in Mönchengladbach antwortete Mitte Januar 1990 der Betriebsgewerkschaftsleitung in Crimmitschau, man hätte alles mit der Geschäftsleitung besprochen und hoffe nun, dass es bald „eine Besserung in Richtung auf eine freie Marktwirtschaft“ gebe. Der „Hilferuf aus Sachsen“ war dem Betriebsrat von Trützschler und einigen nordrhein-westfälischen Landespolitikern sogar eine Pressemitteilung wert. Noch hielt man ein mögliches Engagement in der Schwebe. In der rheinischen Presse wurde schon über eine „Produktionsverlagerung“ spekuliert, obwohl bekannt war, dass das Werk in Crimmitschau technisch hoffnungslos veraltet war.
Acht Monate später war das Thema endgültig vom Tisch. Die Rheinische Post berichtete am 3. Oktober 1990, dem Tag des Beitritts der ehemaligen DDR zur Bundesrepublik Deutsch-land, dass es in Zukunft keinen Produktionsstandort von Trützschler in der ehemaligen DDR geben werde. Heinrich Trützschler, Firmenchef in 4. Generation, versicherte, Trützschler bleibe ausschließlich im Westen. Die asiatischen Märkte lockten: Das Mönchengladbacher Unternehmen hatte in diesem Jahr eine neue große Produktionshalle mit innovativen Mon-tagebändern für Karden eröffnet und eben erst eine Aufstockung und Erweiterung seines Verwaltungsgebäudes beschlossen. Gleichzeitig verwies Heinrich Trützschler darauf, dass das Unternehmen neue Mitarbeiter suche. Etliche neue gut ausgebildete Fachkräfte kamen aus dem sächsischen Textilmaschinenbau, Außendienstmitarbeiter insbesondere aus Crimmitschau.
Im Juli 1990 hatte Hermann Trützschler mit Tochter und Schwiegersohn, seinem Nachfolger im Unternehmen, Crimmitschau besucht und sich zuvor im ehemaligen Firmenstammsitz zur Betriebsbesichtigung angemeldet, bzw. höflich darum ersucht. Zu diesem Anlass holte die Belegschaft das nach 1949 ausgebaute Jubiläumsgeschenk von 1938 aus seinem Versteck und baute es am angestammten Platz im Treppenhaus des Verwaltungsgebäudes wieder ein. Trotzdem verlief dieser Besuch für beide Seiten enttäuschend. Hermann Trützschler war schockiert über unschöne bauliche Veränderungen und den technischen Rückstand in den Werkshallen. Im August wurde die Crimmitschauer Belegschaft zum Gegenbesuch in Mön-chengladbach empfangen, doch wartete sie vergeblich auf eine Übernahme-Zusage oder dauerhafte Produktionsvereinbarungen.
Im September 1990 stellte die Textima ein letztes Mal auf der traditionellen Leipziger Messe aus. Das alte Zentrum des Handels unter den RGW-Ländern war nun – wie der Spiegel am 10. September 1990 berichtete, zur „Klagemauer des sozialistischen Handels“ geworden. Die Textima hatte bisher rund 80 Prozent ihrer Produktion in die sogenannten Ostblock-Länder, vor allem die Sowjetunion, verkauft. Mit Auslaufen des 7. Fünf-Jahres-Plans am Ende des Jahres waren keine neuen Aufträge mehr zu erwarten. Seit Einführung der D-Mark zog es auch die Delegationen der ehemaligen sozialistischen Freundschaftsstaaten zum Einkau-fen in den Westen.
Das Unternehmen Trützschler hatte seit einigen Jahren über eine Ausweitung seiner Pro-duktlinie nachgedacht. Vor allem entwicklungsintensive Maschinen der Vorspinnerei wie Ringspinnmaschinen, Flyer und Kämmmaschinen fehlten im Programm. An der Kämmma-schine des Unternehmens Chemnitzer Spinnereimaschinen (CSM), ehemals wie das Trützsch-ler-Stammwerk Teil des VEB Textima und seit 1990 im Besitz der Treuhandgesellschaft, war Trützschler interessiert. Die Chemnitzer Spinnereimaschinen GmBH galt als eines der leis-tungsfähigsten Werke im ehemaligen Textima-Kombinat. Im Laufe der Verhandlungen zeigte sich jedoch, dass die Preisvorstellungen weit über den Weltmarktpreisen lagen und es der Geschäftsleitung nicht möglich war, auf Weltmarktniveau und mit entsprechenden Maßga-ben zu kalkulieren. Auch die zwischenzeitlich ebenfalls an der Produktion des Chemnitzer Spinnereimaschinen Unternehmens interessierte amerikanische Firma Hollingsworth zog sich zurück.
Hans Trützschler, der in den gesamtdeutschen Arbeitsausschuss der VDMA berufen worden war, versuchte trotzdem immer wieder, der Treuhand wie auch den Geschäftsleitungen von ehemaligen Textimabetrieben beratend zur Seite zu stehen und die Werke mit der Vergabe von kleineren Aufträgen für Maschinenteile zu unterstützen.
Im Juli 1990 stellte die Familie Trützschler Antrag auf Rückübertragung der Liegenschaften, also der Wohnhäuser und der Firma. 1992 hob das Landgericht Chemnitz das Urteil gegen Bruno, Willy und Karl Trützschler vom 30.5.1949 auf, alle drei wurden rehabilitiert. Den Familien wurden die Vermögenswerte rückerstattet. Auf eine Rückübertragung des Firmen-grundstücks wurde verzichtet, stattdessen eine Entschädigung verlangt.
Im Rahmen einer kurzfristigen Kooperation mit der nunmehrigen Crimafa (Crimmitschauer Maschinenfabrik), die wohl eher als Wiederaufbauhilfe gedacht war, wurde das Jubiläums-geschenk von 1938 – im Jargon der Crimmitschauer Firmenleitung „die Bleiverglasung“ – dem Trützschler- Unternehmen in Mönchengladbach zugesichert und von diesem am 4. De-zember 1990 nach Mönchengladbach abgeholt. Noch immer hoffte der verbliebene Rest der Belegschaft auf eine Übernahme oder Beteiligung von Trützschler. Trützschler vergab tat-sächlich nochmals Aufträge für Fertigung von Kardenteilen an das Werk in Crimmitschau-. Die Ergebnisse waren nicht zufrieden stellend. Zeitweilig waren dies jedoch die einzigen Auf-träge im Jahr 1991. 146 Leute beschäftigte Direktor Bammler, 30 Prozent davon nur zeitweilig, alle befanden sich dauerhaft in Kurzarbeit. 1992 verloren drei Viertel aller im sächsischen Textilmaschinenbau Beschäftigten ihren Arbeitsplatz. Viele wanderten oder pendelten in den Westen, die meisten nach Bayern, aber etliche auch nach NRW, eben auch zu Trützschler nach Mönchengladbach.
Der Spinnereimaschinenbau der ehemaligen Textima fand bis auf eine kleine Handelsvertre-tung in Berlin, die den Namen weiterführte, keinen Nachfolger und verschwand, damit auch über 2500 Arbeitsplätze.
Im Frühsommer 1992 wurde auch die Crimmmitschauer Maschinenfabrik GmbH liquidiert. Eine Gesellschaft für Schraubenverdichter (GVM) übernahm einen Großteil der Produktionsanlagen. 2009 siedelte sich unter anderem ein Unternehmen für Maschinenbau und Instand-setzung auf dem Areal an. Im ehemaligen Stolz der Firma Paul Trützschler & Gey, dem 1938 errichteten Verwaltungsgebäude, war zeitweilig ein Call Center untergebracht.

Der Beitrag basier auf Recherchen, die von der Autorin im Rahmen der Erstellung der Jubiläumschronik des Textilmaschinenunternehmens Trützschler in Mönchengladbach durchgeführt wurden: 125 Jahre Textilmaschinenbau Trützschler, Crimmitschau-Mönchengladbach, 1888-2013, Mönchengladbach 2014. Die Chronik ist nicht über den Buchhandel beziehbar, jedoch in der Deutschen Nationalbibliothek hinterlegt.

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